Das Leben als Sehnsuchtsort. – Anita Rée-Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle

6.10.2017 – 4.2.2018 | Hamburger Kunsthalle

Anita Rée, Selbstbildnis, 1930.

 

von Ninja Elisa Felske //

 

Eindringlich, expressiv und zugleich verschlossen-melancholisch – es ist kein Porträt, dem der Betrachter sich zu entziehen vermag. Die Frontalität ihrer Pose, mit der die junge, unbekleidete Frau aus dem Bild hinausstarrt, bannt den Blick ebenso wie der Kontrast ihrer dunklen Augen und Haare mit dem leuchtend hellgrünen Hintergrund. Ob ihre Augen allerdings in die Außenwelt oder in ein unbestimmtes Inneres fokussieren, bleibt ungewiss. Ihre Arme schützend verschränkt, gilt die Hand, die den Kopf abstützt, seit der Antike als eine Geste der Melancholie. Der Koralle, die sie als Ohrring trägt, wurde hingegen in der Renaissance eine Wirkung gegen melancholische Fantasie zugeschrieben.

Es ist ein Bildnis voller Ambivalenz, dieses „Selbstbildnis“ der Anita Rée (geboren 1885 in Hamburg, gestorben 1933 in Kampen auf Sylt) aus dem Jahr 1930. Als Teil der Sammlung der Hamburger Kunsthalle erinnert es an die Künstlerin, die zu Lebzeiten in ihrer Heimatstadt und über deren Grenzen hinaus geschätzt war. Zu Unrecht geriet sie in den folgenden Jahrzehnten in Vergessenheit. Nun widmet ihr die Hamburger Kunsthalle eine umfassende Retrospektive: Über 200 teilweise erstmals ausgestellte Werke, darunter Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und gestaltete Objekte, geben einen detaillierten Einblick in Anita Rées technisch wie stilistisch vielschichtiges Œuvre.

Ihre Werke erstrecken sich von impressionistischer Freilichtmalerei über kubistisch beeinflusste Land- und Stadtansichten bis hin zu strengen neusachlichen Porträts. Als Tochter eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns und seiner aus Venezuela stammenden Frau in gutbürgerlichem Hause geboren, war für Anita Rée eine Künstlerlaufbahn nicht vorgesehen. Es bedurfte des Zuspruchs durch den Künstler Max Liebermann, dass auch die Familie ihr Talent erkannte und förderte. So wurde sie von dem Hamburger Impressionisten Arthur Siebelist unterrichtet, bevor sie 1912/13 nach Paris ging, bei Fernand Léger Aktzeichnen lernte und ihre große Zuneigung zu der Kunst Cézannes vertiefte. Sehnsuchtsorte durchziehen ihr Schaffen – die Kulturen Europas, Asiens und Afrikas faszinierten Rée und sie nutzte häufig die Bibliothek ihres Freundes Aby Warburg. Besonders einschneidend war jedoch ein Italienaufenthalt von 1922 bis 1925. Im Fischerdorf Positano an der Amalfiküste reifte ihre charakteristische Bildsprache: Sie enthält nüchterne Blicke auf jenes Dorf, menschenleer, monochrom und präzise konturiert in kubistischer Mehransichtigkeit. Ihre Porträts lassen altmeisterliche Komposition und Malweise der neusachlichen Formsprache begegnen und entbehren dabei nie einer verrätselten Stille. So auch „Teresina“ (1925), ihr Mädchenporträt, das Gustav Pauli, Direktor der Hamburger Kunsthalle, für seine Sammlung ankaufte.

Galt Anita Rées Selbstbildnis von 1930 auch lange als Vorbote ihrer Isolation und des späteren Freitods, ist es gemäß heutiger Forschung eher als Darstellung ihrer selbst als umfassend gebildete Künstlerin zu deuten. Eine Positionierung, der die Hamburger Retrospektive Recht gibt.

 

Anita Rée. Retrospektive
6.10.2017 – 4.2.2018, Hamburger Kunsthalle
Glockengießerwall 5, D-20095 Hamburg
Tel.: +49-40-428131200
Di – So 10 – 18 Uhr, Do 10 – 21 Uhr
Eintritt: 14 €, erm. 8 €
www.hamburger-kunsthalle.de

 

Text aus der kunst:art 58

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