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21.4.2018 – 16.9.2018 | Kunsthalle zu Kiel: Alicja Kwade – AMBO

Alicja Kwade – AMBO, Ausstellungsansicht Kunsthalle zu Kiel © Courtesy: Alicja Kwade, Kunsthalle zu Kiel, Foto: Roman März

 

Alicja Kwade – AMBO, Ausstellungsansicht Kunsthalle zu Kiel © Courtesy: Alicja Kwade, Kunsthalle zu Kiel, Foto: Roman März

Betritt man die Kunsthalle zu Kiel, dreht die Zeit bereits durch. An prominenter Stelle ist eine Uhr angebracht, bei der sich nicht die Zeiger bewegen, sondern das Ziffernblatt rotiert. Und das in einer Geschwindigkeit, die eine Stunde in nur eine Sekunde komprimiert. Das Werk des deutschen Künstlers Via Lewandowski ist zwar bereits seit einigen Jahren im Besitz der Kunsthalle, leitet aber treffend in die aktuelle Sonderausstellung von Alicja Kwade ein. Mehr noch, mit dem Ankauf ihrer Installation WeltenLinien hat das Museum ein weiteres Werk hinzubekommen, das über die Zeit und unsere Erfahrungen mit ihr reflektiert.

Alicja Kwade wurde 1979 in Polen geboren und gehört zu den profiliertesten Künstlerinnen der Gegenwart. In ihren Arbeiten setzt sie sich mit wissenschaftlichen Modellen, Welterklärungen und Kosmologien auseinander. Oftmals wird sie der Konzeptkunst zugeordnet; dies ist jedoch ein Etikett, das heutzutage zu allgemeingebräuchlich geworden ist. Zwar vermittelt Kwade mit ihren Werken eine zugrundeliegende Idee, jedoch tritt die Ästhetik nicht hinter einem abstrakten Konzept zurück. (Auch in einem Gemälde von Tizian ist ein ausdifferenziertes gedankliches Konstrukt enthalten – wie wahrscheinlich in jedem guten Kunstwerk.) Vielmehr gelingt es Kwade immer wieder, ein komplexes Thema auf höchst spekulative Weise zu visualisieren, also Möglichkeiten anzubieten, wie eine abstrakte Theorie bildlich aussehen könnte. Dies geschieht nicht in der radikalen Schlichtheit konzeptueller Kunst der sechziger und siebziger Jahre, sondern ihre Objekte, Installationen, Bilder und Filme setzen auf schimmernde Oberflächen, industrielle Massenprodukte, ausgefallende Materialien und technisch anspruchsvolle Objekte aus dem 3-D Scanner.

Raum- bzw. Zeiterfahrung und ihre Relativität stehen im Zentrum der Ausstellung AMBO. Der Titel soll durch seine lateinische Bedeutung „beide“ oder „mehrdeutig“ auf einen grundlegenden Zweifel und die niemals gegebene Eindeutigkeit verweisen, die jedem philosophischen, aber auch naturwissenschaftlichen oder physikalischen System innewohnt. Wie verlockend Modelle zur Erklärung unserer komplexen Umwelt auch sein mögen und wie anregend ihre Verbildlichung ist, sie bleiben immer nur ein Ausschnitt des Kosmos. Alicja Kwade scheint sich diesem Umstand vollends bewusst zu sein und entwickelt darauf aufbauend ihre Kunst.

Alicja Kwade, Hypothetisches Gebilde, 2016, Kupfer, Granit, Malachit, 181,3 x 160,2 x 217,7 cm © Courtesy: Alicja Kwade, kamel mennour Paris/London, Foto: Roman März

Die insgesamt 14 Arbeiten aus den letzten 17 Jahren ihres Schaffens verdeutlichen diese Denkweise: Beispielsweise kann die Videoarbeit In Ewig den Zufall Betrachtend von 2014, in der mehrere Würfel in Zeitlupe und mit verzögertem Gepolter durch einen schwarzen Hintergrund segeln, auf den berühmten Ausspruch von Albert Einstein „Gott würfelt nicht“ bezogen werden. Die zweite Videoarbeit Kreisel (Inception) von 2012 bezieht sich auf den gleichnamigen Kinofilm, in dem der Hauptcharakter Leonardo DiCaprio nur erkennt, dass er auf die Realitätsebene wieder zurückgefunden hat, wenn der metallene Kreisel umfällt – Kwade lässt den original Film-Kreisel in einem Loop drehen, der Betrachter muss auf den Realitätsbeweis also vergeblich warten.

Alicja Kwade, Hypothetisches Gebilde, 2016, Kupfer, Granit, 180,5 x 149 x 189 cm, kamel mennour © Courtesy: Alicja Kwade, kamel mennour, Paris/London, Foto: Julie Joubert

Gleich fünf Versionen ihrer Serie Hypothetisches Gebilde aus den Jahren 2015-2018 sind in den Ausstellungsräumen gruppiert. Auch in ihnen kommt es zur Spekulation über ein wissenschaftliches Konstrukt: Zwei räumlich wie zeitlich weit entfernte Sphären des Universums sind durch einen direkten Weg miteinander verbunden, ein sogenanntes „Wurmloch“. Die zusammengeschweißten Kupferrohre mit mehreren trompetenhaften Schallstücken an den Enden sind teilweise direkt verbunden, sodass zwei Besucher in guter alter Dosentelefon-Manier miteinander kommunizieren können. Teilweise laufen sie auch ins Leere – nicht jedes Wurmloch kommt irgendwo an.

Als Herzstück der Ausstellung und Nukleus von Kwades künstlerischer Vorgehensweise fungiert das Werk WeltenLinien. Die Installation von 2018 ist eine neue Version des gleichnamigen Beitrags von Kwade zur letztjährigen Venedig Biennale. Die WeltenLinien von 2017 haben in den Arsenalen der Lagunenstadt für helle Aufregung gesorgt. Das Prinzip bleibt in der neuen Auflage gleich, nur die einzelnen Objekte haben sich verändert. Ein raumgreifender Stahlrahmen, der diverse rechteckige Flächen in sich verschachtelt, enthält einige

Alicja Kwade – AMBO, Ausstellungsansicht Kunsthalle zu Kiel © Courtesy: Alicja Kwade, Kunsthalle zu Kiel, Foto: Roman März

Spiegelflächen und kann zum Teil auch durchschritten werden. Natürliche Objekte, wie ein Baumstamm oder ein Findling, wurden mittels 3-D Scanner in betont künstlichen Farben (das Pendant zum Findling ist silbern) reproduziert und so exakt angeordnet, dass der Betrachter je nach Standort die Objekte ineinander übergehen sieht. Der Effekt wird durch die verspiegelten Flächen erzeugt: An einer bestimmten Stelle sieht man die eine Hälfte des Findlings als natürlichen Stein und seine andere Hälfte als silberne Reproduktion. Beim langsamen Durchschreiten der Installationen stellt sich schnell ein genereller Zweifel ein, ob man nun gerade den „echten“ Stein zur Hälfte sieht und den reproduzierten im Spiegelbild oder andersherum. Bei längerem Umkreisen steigt das Misstrauen dem eigenen Empfindungsapparat gegenüber, sodass bereits die Hand nach vorne austreckt werden muss, um nicht versehentlich gegen eine verspiegelte Fläche zu laufen.

Der Titel der Arbeit ist eine Anspielung auf den von Hermann Minkowski geprägten Begriff der „Weltlinie“, den dieser zuerst 1908 vorstellte. Er bezieht sich auf die Relativitätstheorie und gibt an, dass jedes Objekt – so auch der Mensch – immer in einer spezifischen Bewegung durch Zeit und Raum existiert. Jeder Ort, an dem wir uns zu einer bestimmten Zeit aufhalten, ist ein Ereignis (ein „Weltpunkt“), und die Abfolge der Ereignisse ergibt unsere ganz persönliche „Weltlinie“. Verschiedene „Weltlinien“ in ein Minkowski-Diagramm übertragen ergeben den Nachweis, dass „Gleichzeitigkeit“ und „Gleichortigkeit“ nicht für jeden Beobachter identisch sind – ihre Relativität wird sichtbar gemacht. Kwade schafft mit ihrer Installation eine perfekte Visualisierung von Minkowskis Überlegungen, da für den Betrachter von seinem speziellen Blickpunkt aus die verschiedenen Objekte räumlich und zeitlich gleich existieren, obwohl sie zwei verschiedene sind (der echte Stein und seine Reproduktion).

Welch ein Glück für die Kunsthalle zu Kiel, dass diese Arbeit dauerhaft an das Haus gebunden werden konnte. Hoffentlich bekommt sie nach Beendigung der Sonderausstellung einen Platz in der festen Sammlung und verschwindet nicht im Depot. In ersterem Fall könnten die Besucherinnen und Besucher weiterhin einen durch sinnliche Erfahrung vermittelten und dadurch einfachen Zugang zu solch komplexen Themen wie der Relativitätstheorie bekommen. Ein Hinterfragen der Welt und ihrer scheinbar einfachen Wahrheiten, gehüllt in ein ästhetisches Gewand.

 

 

Weitere Informationen: www.kunsthalle-kiel.de

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