“Die geistigen Deutschen müssten untergehen …”

15.12.2018 - 31.03.2019 | Brücke-Museum Berlin

Ernst Ludwig Kirchner, Bohème Moderne, 1924 (Sammlung E.W. Kornfeld, Bern/Davos)

Ernst Ludwig Kirchner in Davos Dr. Milan Chlumsky

1917 kam Ernst Ludwig Kirchner zum ersten Mal nach Davos in ein Sanatorium. Grund war der Gebrauch von Morphium und einem Schlafmittel infolge eines physischen und psychischen Zusammenbruchs nach nur einigen Monaten Militärdienst 1915 in der Feldartillerie. Für untauglich erklärt, verbrachte er zahlreiche Aufenthalte in verschiedenen Sanatorien, doch die Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten wurde nicht gelindert. Im Januar 1917 begab er sich schließlich auf Anraten seines Vaters nach Davos. Wegen der großen Kälte dort unterbrach er die Behandlung und kehrte nach Berlin zurück. Doch im Mai unternahm er einen neuen Versuch in der Hoffnung, dass durch die Entziehungskur auch die zeitweilige Lähmung der Gliedmaßen und seine Bewusstseinsstörungen zurückgehen würden. Kirchner benötigte ganze vier Jahre, um den Zustand etwas zu verbessern.

Im Sanatorium freundete er sich mit dem Bildhauer und Architekten Erwin Friedrich Baumann an. In den folgenden Jahren unterstützten sich die beiden gegenseitig. Ob es Baumann war, der letztendlich Kirchner half, ein neues Domizil in Frauenkirch zu finden, ist ungewiss. Kirchner gab in 36 erhaltenen Briefen dem Bildhauer sehr viele präzise Information und Ratschläge – etwa jenen, Baumann solle sich eher an Brancusi und Alberto Giacometti orientieren denn an Barlach und Kolbe – und korrigierte gar ein wenig durch seine Zeichnungen die Werke, an denen Baumann arbeitete. Dieser revanchierte sich mit einem Roman, an dem er damals schrieb.

Auf jeden Fall begünstigte Kirchners Abgeschiedenheit in den Alpen seine langsame Genesung und sein (kommerzieller) Erfolg mit seinen Berliner Bildern führte zu dem Entschluss, einen neuen Weg zu suchen, jenseits des Expressionismus. Eine neue Phase mit zweidimensionaler, flächiger Landschaftsmalerei begann, in der der Maler neue Farbkombinationen mit einem ruhigeren Pinselstrich ausprobierte. Zwar tauchten die Erinnerungen an die Dresdener und Berliner Zeit, an die Ausflüge in die Natur (Moritzburger Teiche, Fehmarn oder die Ostsee) in seinen „Davoser Tagebüchern“ immer wieder auf, doch es ist nur, oberflächlich gesehen, sein aufgefächerter Farbauftrag, den er aus Berlin in die Schweiz mitnimmt. Bald wurde ein Perspektivenwandel ersichtlich, Ornamente verschönerten die ruhige Landschaft.

Doch als die Nationalsozialisten immer stärker nach der Macht strebten, griff der sensible Maler erneut zu Beruhigungsmitteln. Die Medikamentenabhängigkeit kehrte zurück. Als ihm die Kunsthalle Bern im März und April 1933 eine große Retrospektive ausrichtete, spürte Kirchner das Unheil über die deutsche Kunst kommen und annoncierte in seinem Katalogbeitrag unter dem Pseudonym Louis de Marsalle den Tod von E. L. Kirchner. Nach der Annexion Österreichs überfiel ihn panische Angst. Im Mai 1938 beantragte er bei der Gemeinde in Davos Papiere für die Eheschließung mit seinem langjährigen Modell Erna, einen Monat später zog er den Antrag zurück. Am 15. Juni setzte er seinem Leben ein Ende. Dennoch gehören diese zwanzig Jahre in der Schweiz zu den produktivsten seines Lebens.

 

Text: Dr. Milan Chlumsky, Bild: Brücke-Museum
Erstveröffentlichung kunst:art 65