Der flüchtige Blick

17.5. – 15.9.2019 | Alte Nationalgalerie

Gustave Caillebotte, Rue de Paris, temps de pluie (Straße in Paris, Regenwetter), 1877 (Art Institute of Chicago, © Charles H. and Mary F. S. Worcester Collection)

Der gewagte Bildausschnitt durchtrennt die klaren Linien der Architektur ebenso wie dynamische Bögen diverser Regenschirme – mit ihnen flanieren Menschen durch die nass schimmernden Straßen von Paris, in sich gekehrt, keine Blickachse scheint eine andere zu streifen. Nicht nur aufgrund seiner eigenwilligen Perspektive und des monumentalen Formats von 212,2 x 276 cm gilt das Gemälde „Straße in Paris, Regenwetter“ als das Hauptwerk des französischen Malers Gustave Caillebotte (1848–94). In jener Größe, die bis dahin meist dem Historienbild vorbehalten war, inszeniert er einen flüchtigen Blick auf das alltägliche Treiben auf den Boulevards des modernen Paris, das seit seiner massiven Umgestaltung durch Baron Geor¬ges Haus¬s¬mann aufblühte.

Selten ist jenes Bild der verregneten Metropole, das auch als Ikone des Impressionismus bezeichnet wird, bisher nach Europa gereist. Es ist Teil der Sammlung des Art Institute in Chicago und wird nun erstmals in Berlin präsentiert: Als „special guest“ bezeichnet Dr. Ralph Gleis, Direktor der Alten Nationalgalerie Berlin, dieses Gemälde innerhalb der Sonderausstellung „Gustave Caillebotte. Der malende Mäzen der Impressionisten“ ¬– denn es wird in den Kontext der impressionistischen Sammlung des Hauses eingeordnet und öffnet thematische Bezüge zu Caillebottes Freunden wie Monet, Renoir, Cézanne oder Degas.

Für jene großen Impressionisten war Gustave Caillebotte nicht nur Künstlerkollege, sondern auch zentraler Förderer: Er war von Hause aus wohlhabend, ein typischer Bourgeois, und glich wenig den Künstlern, die sich im 19. Jahrhundert von allem Bürgerlichen abgrenzten. Frönte er in vielerlei Hinsicht dem standesgemäßen Müßiggang, war sein künstlerisches Schaffen doch geprägt von Talent und einer fundierten Ausbildung an der École des Beaux-Arts. Effektiv engagierte er sich für die Arbeit seiner Kollegen; er finanzierte erste impressionistische Ausstellungen, unterstützte lange seinen Freund Claude Monet finanziell und verfügte über eine umfassende Sammlung impressionistischer Kunst, die er testamentarisch dem französischen Staat schenkte. So bemühte er sich, den Impressionismus in öffentlichen Sammlungen zu etablieren; hier zieht die Berliner Schau eine Parallele zu Hugo von Tschudi, der dies für die Alte Nationalgalerie bereits ab 1896 realisierte.

Der Ausstellungstitel lässt den Mäzen dem impressionistischen Maler auf einer Augenhöhe begegnen, die historisch nicht immer gegeben war; dabei war der Künstler Caillebotte durchaus revolutionär – und gar nicht allzu typisch impressionistisch. Zwar bediente er sich der Freilichtmalerei, seinen minutiösen Kompositionen des scheinbar Flüchtigen liegen aber oftmals detaillierte Vorstudien zugrunde. Zudem ist der Kontext mit der zeitgleich florierenden Fotografie ein zentraler Aspekt seiner Bildsprache. Da sein Nachlass nicht erhalten ist, bleibt ungewiss, ob er selbst fotografierte. Doch die Unmittelbarkeit seiner Ästhetik macht sowohl Inspiration durch die Fotografie als auch ihre spätere stilistische Beeinflussung denkbar: Mittels radikaler Aufsichten, Nahsichten und Anschnitte finden das moderne Stadtleben und der moderne Mensch in Caillebottes Werken ihre malerische Reflexion.

 

Gustave Caillebotte. Maler und Mäzen des Impressionismus
17.5. – 15.9.2019
Alte Nationalgalerie
Bodestr.
D-10178 Berlin
Tel.: +49-30-266424242
Di – So 10 – 18 Uhr, Do 10 – 20 Uhr
Eintritt: 10 €, erm. 5 €
www.smb.museum

Text: Ninja Elisa Felske
Bild: Alte Nationalgalerie
Erstveröffentlichung in kunst:art 67