Süße Reinheit

24.5. – 11.8.2019 | Dommuseum Hildesheim

Morio Nishimura, Süßer Regen, o.J.

Ein zweigeteiltes Verhältnis pflegen Japaner zur Natur. Ihrer unerbittlichen technischen Ausnutzung steht auf der anderen Seite eine geradezu religiöse Verehrung gegenüber, wenn etwa Mönche mit großer Inbrunst Blätter vom Moos harken. Vögel werden gefangen halten, um sie dann mit Gebeten wieder in die Freiheit zu entlassen. Ein Tag wird in der Pachinko-Spielhölle verbracht, der nächste im buddhistischen Tempel oder im Shinto-Schrein. Der Frage, wie Mensch, Natur und Mythos miteinander in Verbindung stehen, spürt der Japaner Morio Nishimura nach. Geboren 1960 in Tokio, studierte er zunächst Bildende Kunst mit Schwerpunkt Bildhauerei an der Tama Art University in der japanischen Hauptstadt, bevor er 1992 mit einem DAAD-Stipendium an die Kunstakademie Düsseldorf kam, wo er drei Jahre später als Meisterschüler bei Günter Uecker seinen Abschluss machte – zu einer Zeit, als in Deutschland laut über die Waldschäden durch sauren Regen debattiert wurde.

Eine Reihe von Morio Nishimuras Arbeiten tragen den Titel „Süßer Regen“ und beziehen sich auf die Legende, dass am Tag der Geburt Siddhartas als Buddha Blütenblätter vom Himmel regneten und sich das salzige Meerwasser in Süßwasser verwandelte. Süßer Regen verbindet diese beiden göttlichen Zeichen zu einem. Zweiter Bezugspunkt ist der Lotus, ein zentrales Motiv in Nishimuras Werk. Süßer Regen erinnert an eine von über 100 Benennungen des Regens im Japanischen, ein Phänomen im Übergang von Nebel zu Regen. Die Lotusblume formt in ihren wasserabweisenden Blättern die Nebelfeuchte zu Tropfen und sammelt sie. Nishimuras zerbrechlich wirkende Bronze-Skulpturen entstehen aus schweren Scheiben von Holz, die gesägt, geklebt und geschliffen werden, bis sie die Form von mal geöffneten, mal geschlossenen Lotosblättern annehmen. Diese stehen nicht nur für Eleganz, Reinheit und Anmut, sondern auch für das Lebenselixir schlechthin. Ohne Wasser keine Flora, keine Fauna, kein menschliches Leben. Anlässlich seiner großen Ausstellung im Museum of Modern Art Kamakura erklärt Nishimura: „Ich trage den Lotos in mir. Als Erinnerung ergreift er oft meine Gedanken. Abstrakt stehe ich mit ihm in einer intensiven Beziehung und so ist er ein Teil von mir.“

Eine Arbeit aus der Reihe „Süßer Regen“ – eine Leihgabe aus der Sammlung Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung – steht im Zentrum der Ausstellung „Vegetabil“ im Dommuseum Hildesheim. Historische Publikationen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert fächern dazu unterschiedliche Aspekte der Pflanzenwelt auf. So sind im Kräuterbuch „Hortus sanitatis“ von 1491 heilsame Pflanzen abgebildet. Der Hortulus animae von 1593, in dem Ranken und Blätter als Ornamente die Seiten zieren, diente der Andacht. 1783 erschien Meyers „Flora des Königreichs Hannover“, die in großformatigen Kupferstichen die heimische Pflanzenwelt versammelt; als Gegenstück wird eine Schrift Richard Piepers ausgestellt, deren farbenprächtige Abbildungen dem Betrachter die asiatische Flora näherbringen. Die Ausstellung ist ein schöner kontemplativer Spaziergang durch kunstvoll veredelte Natur.

Vegetabil
24.5. – 11.8.2019
Dommuseum Hildesheim
Domhof
D-31134 Hildesheim
Tel.: +49-5121-307760
Di – So 11 – 17 Uhr
Eintritt: 6 €, erm. 4 €
www.dommuseum-hildesheim.de

Text: Sabine Scheltwort
Bild: Dommuseum Hildesheim
Erstveröffentlichung in kunst:art 67