Die Schönheit der Dekonstruktion

23.6. – 1.9.2019 | Kunsthalle Göppingen

Stefan Rohrer, Turbo, 2014

Auto und Geschwindigkeit. Wohl kaum ein weiterer technischer Gegenstand wurde und wird in vergleichbarer Weise mythologisiert. Die künstlerische Auseinandersetzung mit ihm ist beinahe so alt wie das Automobil selbst. Das Auto polarisiert, ist politischer und gesellschaftlicher Zündstoff und gerade deshalb auch aus der Themenwelt der zeitgenössischen Kunst nicht wegzudenken. Doch darüber hinaus ist es noch immer Symbol für Freiheit, Mobilität und Abenteuer, Traumobjekt und Fetisch. Auch in den raumgreifenden Skulpturen des 1968 in Göppingen geborenen Bildhauers Stefan Rohrer steht die Faszination für das Automobil, für seine Formen und Oberflächen im Mittelpunkt. Die Freude und Lust an der Geschwindigkeit ist in der Betrachtung seiner Werke nachzuvollziehen, so sind Autos, aber auch Motorräder und Motorroller nicht nur pure Gebrauchsgegenstände, sondern immer auch mit Vorstellungen und Wünschen besetzt.

Stefan Rohrer: „Als Kind wollte ich Autos bauen und als Jugendlicher Autodesigner werden. Als junger Erwachsener war das für mich nicht mehr vertretbar. Jetzt lasse ich die Räder weg.“ Aus alten Autokarosserien, Motorrollern und Modellautos formt Stefan Rohrer seine Skulpturen. Karosserien werden zerlegt, gedehnt, geschlungen und neu zusammengesetzt. Zugleich erzählen seine Arbeiten Geschichten. Sie handeln von der Sehnsucht nach Freiheit, aber auch vom Rausch der Geschwindigkeit, von Übermut und Gefahr. Wie schön wäre es, die alltäglichen Gefahren und Katastrophen in ihrer Schönheit zu erfassen. Stefan Rohrer hat es in seinem Atelier in den Stuttgarter Wagenhallen, das mehr einer hochmodernen Autowerkstatt und Lackiererei gleicht, einfach gemacht: Bewegungsabläufe werden in seinen Skulpturen ablesbar und in einzelne Momente aufgefächert. Wie in Zeitlupe wird ein Verlauf sichtbar, wenn sich der Motoroller um einen Laternenpfahl schlingt, zwei Porsche sich ein waghalsiges Rennen liefern oder Rennboliden sternförmig aufeinander zusteuern. Die Titel „Schleudertrauma“ oder „Roller Coaster“ lassen an ein fatales Ende denken. Die Arbeiten changieren zwischen eingefrorener Bewegung und vorwärtsstrebender Dynamik.

Die Kunsthistorikerin Heiderose Langer schreibt dazu: „Unfälle und Katastrophen sind Ausnahmezustände, denn sie sprengen die geregelte Zeit und führen dadurch einen Bruch im Zeitkontinuum herbei“. Ein Ausnahmezustand tritt ein, Ordnungen lösen sich auf, Chaos herrscht. Rohrers Fahrzeuge erscheinen in diesen Dramen zunächst einmal als gescheiterte Helden. Aber er haucht den blechernen Gefährten neues Leben ein. Die Gewalt der Geschwindigkeit mündet in spielerisch-tänzerische Bewegungslinien. Trotz aller Katastrophen, das Moment des Absurden und des Humors überwiegt, wie auch in den filmischen Arbeiten, die oft auch das Scheitern zum Thema haben. Sie handeln von Crash-Tests mit Autos. Die Aufprälle demonstrieren die plastische Energie der Verformung, die letztlich wieder in seinen raumgreifenden hochästhetischen Arbeiten zu erleben ist. In den Videos geht es aber auch ganz autobiografisch um Klavierstunden. Wenn Rohrer Rachmaninovs Klavierkonzert Nr. 2 spielt, macht er das Unmögliche möglich.

Stefan Rohrer. Zeitdilatation, Zeitdelirium… – und zurück
23.6. – 1.9.2019
Kunsthalle Göppingen
Marstallstr. 55
D-73033 Göppingen
Tel.: +49-7161-6504211
Di – Fr 13 – 19 Uhr, Sa + So 11 – 19 Uhr
Eintritt: 2 €, erm. 1 €
www.kunsthalle-goeppingen.de

Text: Stefan Simon
Bild: Kunsthalle Göppingen
Erstveröffentlichung in kunst:art 68