Transkriptionen auf dem großen Blatt

31.8. – 3.11.2019 | Horst-Janssen-Museum Oldenburg

Die Welt, die wir nicht mit eigenen Augen sehen können, ist das ureigenste Arbeitsgebiet von Jorinde Voigt. Vertrackte Algorithmen und Naturphänomene, die Linien, die der Vogelflug über den Himmel zieht, oder der grafische Verlauf von Wegstrecken sind Anregungen, die sie auf ihren oft riesigen Blättern mit Bleistift, Tinte, Tusche, Pastell oder Ölkreide zu fließenden Kompositionen verarbeitet. Das Oldenburger Horst-Janssen-Museum widmet der Künstlerin nun eine umfassende Ausstellung, die sich, eine Referenz an den Namensgeber des Hauses, auf die Papierarbeiten konzentriert (daneben hat Voigt unter anderem skulpturale Installationen geschaffen). Zu den genannten Medien hinzugekommen sind unlängst Blattgold und Blattkupfer, deren kostbarer Glanz sich mit der zarten Farbigkeit zum spannenden Bogen verbindet. Im Mittelpunkt der Schau steht die mehrteilige, gerade erst entstandene Arbeit „Universal Turn“.

Die heute in München lebende Jorinde Voigt (*1977 in Frankfurt/Main) studierte in Darmstadt und Berlin – und zunächst keineswegs Kunst: Stattdessen belegte sie Philosophie, Literatur und Soziologie. Die Kunst kam erst später hinzu, in London und Berlin, abschließend dann das Meisterschüler-Examen bei Katharina Sieverding. Nicht zu vergessen bei diesem Bildungsgang ist auch die Musik, die Schülerin spielte über Jahre engagiert das Cello. Und genau hier, in der Musik, ist ein wesentlicher Grundansatz von Jorinde Voigts späterer Kunst zu finden: Denn Notationen und Partituren sind codierte Schreibweisen, ganz ähnlich denjenigen, mit denen Voigt komplexe Phänomene der oben geschilderten Art in visuelle Erscheinungsformen transkribiert. Zeit, Geschwindigkeit, Töne, der Wind und die Wolken, all das sind flüchtige Phänomene, die nur Spuren hinterlassen oder Erinnerungen. „Temperaturverläufe“, „Popsongs“, „Pulsschläge“, „Adlerflüge“, „sich küssende Paare“, „Himmelsrichtungen“, „Lichtbögen“ oder „Rotationen“, das sind einige der Themen aus dem Schaffen einer Künstlerin, die höchst unkonventionell zwischen den Welten wandert: der Fächer und der Kulturen. Neben „Views on Chinese Erotic Art. From 16th to 20th Century“ stehen Variationen zu philosophischen Theorien: So unterschiedliche Denker wie Schopenhauer und Gilles Deleuze, Sloterdijk und Platon werden in Voigts Blättern bildnerisch paraphrasiert; 2012 entsteht eine Neonarbeit zu Roland Barthes.

Die chinesischen Paraphrasen sind nicht die einzigen Beispiele in Voigts Werk von Kunst über Kunst: Auf- und Überzeichnungen nach diversen alten und neuen Meistern, zu Autoren und Komponisten finden sich wiederholt. „Wir sind lebendig. Wir sind nicht mehr die Person, die wir gestern waren“, so formulierte es die Künstlerin schon vor einigen Jahren in einem Interview und machte so deutlich, woher ihr Interesse am Ephemeren und Fließenden kommt. Die von Voigt bevorzugte Kombination von Schrift, linearen Strukturen und malerischen Formen lässt Wirkungen entstehen, die paradoxerweise sowohl unscharf als auch gleichzeitig präzise sind, verschwimmend und kalkuliert.

 

Jorinde Voigt – Universal Turn
31.8. – 3.11.2019
Horst-Janssen-Museum Oldenburg
Am Stadtmuseum 4-8
D-26121 Oldenburg
Tel.: +49-441-2352885
Di – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 3,50 €, erm. 1,50 €
www.horst-janssen-museum.de

Text: Dieter Begemann
Bild: Horst-Janssen-Museum Oldenburg
Erstveröffentlichung in kunst:art 69

 

Über Dieter Begemann 270 Artikel
Begemanns Blog: Sternschnuppen An dieser Stelle soll es um ästhetische Sternschnuppen gehen und, wie es die Schnuppen so machen, sollen sie hin und her zischen auf manchmal verblüffenden Kursen – kreuz und quer! Ich konnte (und musste zum Glück mich auch nie) entscheiden zwischen praktisch-bildkünstlerischen und theoretischen Interessen: Ich liebe Malerei und Bildhauerei, begeistere mich für Literatur, bin ein Liebhaber von Baukunst und Design –aber meine absolute Leidenschaft gehört der Gestaltung von Gärten und Autos. Und, eh ich’s vergesse: natürlich dem Film!!