Bunt, grell und grenzenlos!

14.06.2020 - 10.01.2021 | Hamburger Bahnhof

Es ist gigantisch und farbig, um nicht zu sagen quietschbunt! Mitten in der großen Halle des Hamburger Bahnhofs befindet sich eine riesige Styroporskulptur, die in ihrer Form zwar abstrakt ist, aber zugleich auch Assoziationen weckt. Sei es ein sich erhebender Drache oder eine Gebirgslandschaft, am wahrscheinlichsten noch der aus Protest emporragende Boden, der sich dem Willen der Menschen entgegensetzt.

Farbe befindet sich auf der Skulptur, eine große Menge Farbe. Sie ist so bunt, dass einem die Augen schmerzen. Diese Farbe ist aber nicht auf der Skulptur, auf dem Körper geblieben. Sie hat sich auf dem Boden fortgesetzt. Nicht einige Tropfen, wie es schon mal passieren kann, sondern großflächig und ebenso bunt wie auf der Skulptur. Als Betrachter geht man auf der Farbe, man verschmilzt geradezu mit ihr und, das ist besonders wichtig, man folgt ihr fast sklavisch …

Denn so wenig, wie die Skulptur das Werk und damit die Farbe begrenzt, so wenig begrenzt auch die Halle das Kunstwerk. Man folgt der Farbe aus der Halle heraus und im Außenraum findet man sich in einer bunten Landschaft wieder. Es ist, als ob ein Eimer mit vielen Farben umgekippt wäre und sich über die Welt ergossen hätte. Möglicherweise auch das Ende des Regenbogens?

Was erst einmal so aussieht, als ob die Künstlerin Katharina Grosse (* 1961) einfach zu viel Farbe gehabt hätte und zurück in ihre adoleszente Phase verfallen wäre, hat selbstverständlich – neben dem rein ästhetischen Faktor – auch verschiedene Bedeutungsebenen. Schon seit vielen Jahren arbeitet sie im Raum, befreit ihre Kunst von Rahmen und Grenzen. Die Kunst von Katharina Grosse bricht aus, bahnt sich ihren Weg und walzt alles nieder. Das geschieht auch hier in Berlin, doch darüber hinaus betritt Katharina Grosse hier auch das Gebiet außerhalb des Museums, wo sich früher die „Flick Collection“ befunden hat und wo demnächst Bürohochhäuser gebaut werden.

Katharina Grosses Kunstwerk ist akustisch ein lautloser Schrei, der durch die Kraft der Farben in ein gellendes Geheul ausbricht. Auf dass es die Investoren und Spekulanten hören und auf dass es vor allem die Bürgerinnen und Bürger der Stadt hören: So könnte es sein: Bunt, chaotisch, kreativ und komplett ohne Dividende! Stattdessen wird es Beton und Glas geben, eine gute Dividende, und der Wind pfeift um die Ecke!

Wenn man die Farbe auf dem Betongrund lange betrachtet, so scheint sich auch im Außenraum der Grund zu erheben. Hier soll kein Büroturm stehen, meint man verzagt zu hören. Der Untergrund erbebt vor all der Farbenpracht, Katharina Grosse als Zauberlehrling hat ganze Arbeit geleistet. Und doch, so weiß man, braucht es mehr, um der Spekulanten Herr zu werden, als ein paar Farbeimer. Ein schöner Traum, der jedoch pünktlich am 10. Januar 2021 enden wird, so wie schon einige Plätze in Berlin den Spekulanten weichen mussten.

 

 

Katharina Grosse. It Wasn’t Us
bis zum 10.1.2021
Hamburger Bahnhof
Invalidenstr. 50-51
D-10557 Berlin
Tel.: +49-30-266424242
Di – Fr 10 – 18 Uhr, Do 10 – 20 Uhr, Sa + So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 14 €, erm. 7 €
www.smb.museum

Text: Christian Corvin
Bild: Hamburger Bahnhof
Erstveröffentlichung in kunst:art 76