Im Oktober 1943 wurde die berühmte Altstadt niedergebombt: Es war die in Kassel beheimatete Rüstungsindustrie, welche die Stadt auf die Liste wichtiger Ziele der Royal Air Force brachte und damit ihre Zerstörung besiegelte. Neuanfang und Wiederaufbau bestimmten das Leben der Deutschen in den 1950er Jahren auf allen Ebenen, auch in Kassel, das eine autogerechte Stadt wurde. Damals deutete noch kaum etwas auf den späteren Wallfahrtsort für Kunstliebhaber hin. Und doch sollte es auch in der Kunst einen Neuanfang geben und Kassel hierin eine wichtige politische Rolle einnehmen. 1955 fand in dieser Stadt die erste „documenta“ statt, die nicht weniger als die Neubewertung der Moderne anvisierte. Heute ist die Schau der Gegenwartskunst längst auch Marke und Geschäftsmodell, ein Event, das unterhaltenden Charakter hat. Die „documenta“ lebt vom Mythos. Die Erinnerungspolitik weist jedoch viele Leerstellen auf. Diesen Leerstellen widmet sich in bisher einmaliger Weise die Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ des Deutschen Historischen Museums, die noch bis zum 9. Januar 2022 zu sehen ist.
Neben einem künstlerischen Blickwinkel, der documenta-Exponate von Max Beckmann, Hans Haacke, Fritz Winter oder Joseph Beuys (wieder) zugänglich macht, deutet die Ausstellung gezielt durch ihre historische Forschung auf bislang wenig beachtete oder unbekannte Brüche im Narrativ der „documenta“. Denn die Anfänge der Kunstausstellung waren nicht nur eng verwoben mit dem politischen Programm der Bundesrepublik, sondern auch mit der NS-Zeit, welche die Ausstellung nach der Verfemung der Moderne als „entartet“ doch zu überwinden suchte: Erst 2019 wurde die Mitgliedschaft von Werner Haftmann in der NSDAP durch eine im Bundesarchiv befindliche Mitgliedskarte nachgewiesen. 1946 wurde er als Kriegsverbrecher gesucht, was ein weiteres Dokument belegt. Haftmann verschwieg seine Biografie. Dass seine Vergangenheit auch Folgen für die Thesenfindung der „documenta“ haben sollte, lässt seine Behauptung vermuten, dass „nicht ein einziger der deutschen modernen Maler ein Jude war“.
Doch es war wohl ebendieser konstruierte Neuanfang, der auch die politische Akzeptanz und nicht zuletzt die Finanzierung sichern sollte: Der Blick richtete sich in Gänze auf die gegenwärtigen politischen Entwicklungen, das noch junge Narrativ der Bundesrepublik von Freiheit und Demokratie. So wurde die documenta vielfach im politischen Kontext ihrer Zeit beeinflusst, in dem sie in der „Zonenrandlage“ die westlichen Werte der Freiheit gegen den Kommunismus verteidigte. Wie wenig Interesse man deshalb den Künstlern in osteuropäischen Ländern und der DDR entgegenbrachte, lässt sich am deutlichsten am Zeitpunkt der neuen Ostpolitik Willy Brandts nachvollziehen: Erst 1977 gelang es Manfred Schneckenburger, sechs Vertreter des sozialistischen Realismus aus der DDR auf der „documenta 6“ auszustellen. Noch bis weit nach dem Mauerfall blieben die politischen Schablonen wirksam.
documenta. Politik und Kunst
18.6.2021 – 9.1.2022
Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2
D-10117 Berlin
Tel.: +49-30-20304750
Täglich 10 – 18 Uhr
Eintritt: 8 €, erm. 4 €
www.dhm.de
Text: Karolina Wrobel
Bild: Deutsches Historisches Museum
Erstveröffentlichung in kunst:art 80