Was die Welt bewegt

26.9.2021 – 6.2.2022 | Museum Sinclair-Haus

Ein und aus, ein und aus: In langen blauen Linien hält der dänische Künstler Jeppe Hein seine Atemzüge fest. Ruhig und vertikal stehen sie in dem Video „Breathe with me“ nebeneinander, mit dem Pinsel gezogen, mal kürzer, mal länger. Ausgelöst durch eine persönliche Krise, fällt Hein das Atmen plötzlich schwer. Erst durch Meditation und die künstlerische Visualisierung des lebenswichtigen Vorgangs wird es wieder selbstverständlich.

Zu sehen ist die Arbeit in der Ausstellung „Tempo! Alle Zeit der Welt“ im Museum Sinclair-Haus, in der es um unterschiedliche Zeitkreisläufe von Mensch und Natur, um Wachstum, Bewegung und Beschleunigung geht. Dabei deutet der in sich widersprüchliche Titel bereits an, dass sich menschengemachte Geschwindigkeiten und natürliche Rhythmen oft diametral gegenüberstehen.

In der interdisziplinär angelegten Schau lassen sich beispielsweise Pflanzen entdecken, die über 2000 Jahre alt sind – wie eine Fichte in Rachel Sussmans Fotoserie „The oldest living things in the world“, aus deren Wurzelstamm seit 9000 Jahren neue Triebe wachsen. Tatsächlich jung wirkt sie im Vergleich zu dem etwa dreißig Millionen Jahre alten Grubenton aus dem Westerwald, den Simone Kessler als „Erdzeit“ vakuumiert. Auch in anderen künstlerischen und naturkundlichen Exponaten wird die faszinierende Langsamkeit sichtbar, von der die Entwicklung unseres Planeten eigentlich bestimmt ist.

Ein ganzer Raum ist dem Thema Kohlenstoff gewidmet. Er tritt als grundlegendes, chemisches Element in Verbindung mit anderen Stoffen in unendlich vielen Varianten auf. Als Kohlendioxid ist er wesentlicher Bestandteil allen Lebens, Grundlage für die Fotosynthese der Flora, Abfallprodukt der Fauna und eigentlich durchaus dem ökologischen Gleichgewicht zuträglich. Doch das ist durch den Menschen aus den Fugen geraten, CO₂ wird durch Industrialisierung und Globalisierung zum Schreckgespenst und Auslöser der aktuellen Klimakrise. Wie stark die westlichen Nationen zum Ausstoß des Treibhausgases beitragen, wird eindrücklich an dem NASA-Projekt „A Year in the Life of Earth’s CO₂“ deutlich.

Auch im Umgang mit der Zeit verändern die Optimierung und Rationalisierung der Arbeitswelt alles. Wo vorher der Hahn den Anbruch des Tages verkündete, klingeln im späten 19. Jahrhundert die ersten Wecker und geben bis heute eine stark durchgetaktete Lebensstruktur vor. Gleich eine ganze Reihe dieser gnadenlosen Zeitmessgeräte ist in der Ausstellung zu sehen.

Dass auch die Fortbewegung immer rasantere Züge annimmt, veranschaulicht eine verwegene Autofahrt in einem ungeschnittenen Video von Claude Lelouch aus dem Jahr 1976. Auf die Komplexität des heutigen Daseins verweist dagegen Cesar Kuriyama, der seit 2012 täglich eine Sekunde seines Alltags filmisch festhält. Angesichts des schwindelerregenden Tempos, mit dem sich die Dinge gerade verändern, ist es gut, sich – wie Jeppe Hein – auf das Atmen zu besinnen, den eigenen natürlichen Rhythmus des Lebens.

Dr. Julia Behrens hat über das Thema Künstlerateliers promoviert.

 

 

 

Tempo! Alle Zeit der Welt
26.9.2021 – 6.2.2022
Museum Sinclair-Haus,
Löwengasse 15
D-61348 Bad Homburg v.d. Höhe
Tel.: +49-6172-5950500
Di – Fr 14 – 19 Uhr, Sa + So 13 – 18 Uhr
Eintritt: 6 €, erm. 4 €
www.museum-sinclair-haus.de

Text: Dr. Julia Behrens
Bild: Museum Sinclair-Haus
Erstveröffentlichung in kunst:art 81