Die Wirklichkeit, ein romantischer Traum

25.09.2021-03.01.2022 | Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz»

Sehgewohnheiten in Frage stellen, mit Konventionen brechen. Was in der Gegenwartskunst mehrerer Generationen ein Allgemeinplatz ist, war durch das 19. Jahrhundert hindurch noch empörend. Das Regelgerechte galt als das Gelungene. Gustave Courbet wollte das nicht akzeptieren. Für seine Malerei nahm er keinen Umweg über die Mythologie oder das Erhabene, um gegenwärtige Themen zu behandeln. Statt auf die Sage des Sisyphos zu blicken, um einen Arbeitenden zu zeigen, zeigte er einen Steinklopfer, statt auf die Schäferinnen Arkadiens zu blicken, um eine vom Alltag entrückt Ruhende zu zeigen, setzte er eine in der ganz realen Hängematte Ruhende ins Bild. Unerhört! Aber zukunftsweisend. Der 1885, acht Jahre nach Courbets Tod, geborene Sammler Oskar Reinhart erkannte das, die Vorliebe des wohlhabenden Kaufmannssohnes für französische Maler kam hinzu. So ergänzte er seine Sammlung in Winterthur gern und zahlreich um Werke Courbets, insgesamt elf Gemälde sind heute im Bestand der Sammlung Oskar Reinhart. Ein Reservoir, aus dem sich die ganze Entwicklung von Courbets Malerei von jugendlichen Anfängen bis ins reife Spätwerk darstellen lässt.

Erstmals sind sie vollständig in einer Ausstellung zu sehen, ergänzt noch durch zwei Leihgaben. Aus dem Belvedere in Wien kommt „Der Verwundete“, sein Selbstbildnis als Verwundeter. Das Städel in Frankfurt leiht eine Version der von Courbet oft gemalten Woge. Sie rollt gegenläufig zu jener Woge, die in der Sammlung Reinhart selbst vorhanden ist, zusammen bilden sie einen geschlossenen Winkel, der auch die Ausstellung abschließt.

Und die zentrale Frage ist, wie realistisch die Bilder Courbets und das Image, das er sich selbst gegeben hat, tatsächlich sein können. Denn eine Woge ist kaum aus dem unmittelbaren Eindruck direkt am Meer in ein Gemälde zu bannen. Sie muss im Atelier entstanden sein, die von Courbet verwendeten Farben legen das ebenfalls nahe. Sie benötigen in ihrer Verarbeitung Trockenphasen, erfordern damit eher eine altmeisterliche als eine impressionistische Arbeitsweise.

Altmeisterlich verklausuliert erscheint bei genauerer Betrachtung auch die Ruhende in der Hängematte. Im Haar trägt sie Schmerkraut, dem eine verhütende Wirkung nachgesagt wurde. Die Körperhaltung der jungen Frau wirkt dadurch plötzlich lasziver. Eine junge Frau war auch die Ursache der Verwundung, mit der sich Courbet im Selbstporträt zeigt. Die scheinbare Einstichstelle am Herz rührt nicht von einem Degengefecht her, sondern weist auf Liebeskummer hin. Eine Frau, die einst am Bildrand zu sehen war, wurde entfernt. Es bleibt Courbet mit blutendem Herz. Es ist eben nicht immer die reine Realität, die uns der Maler zeigt. In seinen Werken steckt viel Romantik, in der die Welt erst aus der Vorstellungskraft des Individuums entsteht. Hier erklärt sich der Titel der Ausstellung, die nicht nur die Courbet-Sammlung Oskar Reinharts im Überblick zeigt, sondern den Blick auf Courbet und sein Werk über den Realismus hinaus erweitert und zur Diskussion stellt.

Jan Bykowski ist Journalist für Kunst und ihre Märkte in Berlin.

 

 

Courbet. Träume eines Realisten
bis zum 2.1.2022
Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz»
Haldenstr. 95
CH-8400 Winterthur
Tel.: +41-58-4667740
Di – So 10 – 17 Uhr, Mi 10 – 20 Uhr
Eintritt: 15 CHF, erm. 12 CHF
www.roemerholz.ch

Text: Jan Bykowski
Bild: Sammlung Oskar Reinhart
Erstveröffentlichung in kunst:art 82