Das Holstentor (und alles andere) auf dem Kopf

21.5. – 28.8.2022 | St. Annen-Museum

Gerade die allgemein bekannten Wahrzeichen sind schwierig zu sehen: Vor die Wahrnehmung schieben sich immer wieder die Filter der medialen Verbreitung, deren massenhafte Vor-Bilder letztlich nur wiedererkannt werden. Wir sehen keinen Kölner Dom, wir erkennen nur die Postkarten wieder … Diesem Problem rückt (am Beispiel des Lübecker Holstentors) Martin Streit mit einer ganz eigentümlichen bildnerischen Strategie zu Leibe: Er hat das alte Medium der Camera Obscura für sich neu entdeckt. Dafür errichtet er gegenüber dem bekannten Wahrzeichen der Hansestadt an der Trave einen schwarzen Kasten, etwa vom Grundriss eines Containers, aber weitaus höher. Dessen Außenseite besitzt eine winzig kleine Öffnung von 2-3 Zentimetern Durchmesser, durch die das Licht in geringster Dosierung ins Innere fällt. Soweit ganz einfach. Betritt man aber diese Kammer – und darum geht es bei der Ausstellung des Künstlers in Lübeck –, ist man zunächst von schwärzester Finsternis förmlich verschluckt. Nach einer Weile jedoch (3-5 Minuten) entsteht auf der der Öffnung gegenüberliegenden Innenseite ein zunächst ganz schwaches, dann aber langsam zu mehr Deutlichkeit gelangendes Bild der Außenwelt – seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend. Das besagte Holstentor wird erkennbar und bleibt doch ganz fremd: Als läge ein diesiger Schleier über der Welt, durch die pastelligen Farben ein wenig ins Träumerische entrückt.

Der 1964 in Koblenz geborne Martin Streit hat zunächst eine Lehre als Kunstglaser absolviert: Die prägende Erfahrung, wie das durch ein farbiges Fenster fallende Licht die Raumwahrnehmung verändert, bestimmte ihn später, 1988 an der Düsseldorfer Akademie, bei der Wahl Gotthard Graubners als Lehrer. Dessen „ Farb-Raum-Körper“ mit ihrer überaus delikaten Sensibilität für die Tonwerte standen Pate für Martin Streits malerisches Werk, das in der aktuellen Ausstellung im Lübecker St. Annen-Museum gezeigt wird. Stillleben und Landschaften: Ein senkrecht gestreifter „Becher Rot-Grau“ vor einer matten Wand, „2 Rote Kugeln in der Landschaft“, sie alle arbeiten mit feinsten Farbvaleurs und einer leichten Unschärfe, denen man die Verwandtschaft zur Bildwelt der Camara Obscura anmerkt.

Diese Arbeit mit dem Vorläufer aller späteren Kameras – Künstler wie Vermeer etwa haben sie offenbar auch als Hilfsmittel verwendet – charakterisiert tatsächlich genau die künstlerische Position Martin Streits: Wesentliche Komponente ist stets die Zeit, die der Betrachter benötigt, das Bild wahrzunehmen, es eigentlich erst vor dem Auge entstehen zu lassen. Der maximale Gegensatz zum zappeligen Videoschnitt also, mehr Entschleunigung geht kaum! Streit verzichtet dabei bewusst auf die Korrektur des „verkehrten“ Bildes der Camera Obscura; auch dann, wenn er mit tragbaren Exemplaren arbeitet und deren Bildresultate (über einen digitalen Zwischenschritt) in großformatige Bilder auf Papier transformiert.

Dieter Begemann ist Künstler und Kunstwissenschaftler. Er liebt außerdem Architektur, Design, Literatur und Italien!

 

 

 

Das Holstentor steht Kopf
Die Camera obscura und Werke von Martin Streit
21.5. – 28.8.2022
St. Annen-Museum
St. Annen-Straße 15
23552 Lübeck
Telefon +49 451 1224137
Di – So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 8 €, erm. 4 €
www.st-annen-museum.de

Text: Dieter Begemann
Bild: St. Annen-Museum’
Erstveröffentlichung in kunst:art 85

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Begemanns Blog: Sternschnuppen An dieser Stelle soll es um ästhetische Sternschnuppen gehen und, wie es die Schnuppen so machen, sollen sie hin und her zischen auf manchmal verblüffenden Kursen – kreuz und quer! Ich konnte (und musste zum Glück mich auch nie) entscheiden zwischen praktisch-bildkünstlerischen und theoretischen Interessen: Ich liebe Malerei und Bildhauerei, begeistere mich für Literatur, bin ein Liebhaber von Baukunst und Design –aber meine absolute Leidenschaft gehört der Gestaltung von Gärten und Autos. Und, eh ich’s vergesse: natürlich dem Film!!