Die wichtigsten Dinge im Leben, so hört man zumindest, sind oft unbemerkt und werden kaum oder gar nicht wahrgenommen. Ein gesundes Organ wird im Idealfall nicht weiter bemerkt, erst wenn es krank wird, fällt es überhaupt auf. Die Luft ist ein weiteres schlagendes Beispiel. Denn ist jemand Luft für mich, dann bedeutet das keinesfalls, dass es sich um eine lebenswichtige Person handelt, im Gegenteil. Völlige Ignoranz ist gemeint. Denn was man nicht sehen kann, das erscheint im täglichen Leben oft wie ein Nichts. Kommt es aber zu Störungen in diesem Element, empfinden sich Menschen umso stärker bedroht. Die Kunsthalle Mainz widmet diesem sonderbaren Phänomen Luft eine Ausstellung.
Physikalisch ist die Homosphäre der Bereich der Atmosphäre, in dem die verschiedenen Bestandteile der Luft gleichmäßig durchmischt sind. In diesem Bereich können auf der Erde Menschen leben. Oberhalb dieses Bereiches ist die Konzentration leichterer Gase höher als in „unserer“ Luft. Solange sie gesund ist, nehmen wir die Luft wie ein funktionierendes Organ kaum wahr. Diese Gesundheit aber ist fragil und wird von verschiedenen Seiten bedroht. Das wird umso unheimlicher, je weniger die Bedrohung wahrzunehmen ist. Radioaktive Verschmutzung gibt hierfür ein eindrucksvolles Beispiel.
Das japanische Kuratoren-Kollektiv „Don’t Follow the Wind“ macht aus der Unwahrnehmbarkeit das Prinzip ihrer Installation „A Walk in Fukushima“. Nach der Havarie des Atomkraftwerkes ist die Umgebung innerhalb eines Sicherheitsabstandes gesperrt, ehemalige Bewohner können möglicherweise für Jahrzehnte nicht mehr in ihre Häuser zurück. In diesem Bereich haben zwölf Künstler Werke in einer Ausstellung installiert, die an drei Orten innerhalb des Bannkreises auf unabsehbare Zeit nicht zu sehen sein wird. Die Unsichtbarkeit schlägt zurück.
An anderen Stellen wird radioaktive Verschmutzung absichtsvoll in die Luft gesetzt. Julian Charrière hat sie im Idyll des Bikini-Atolls durch einen fotografischen Trick sichtbar gemacht. Denn anders, als das menschliche Auge reagiert, nimmt fotografisches Material Strahlung sehr wohl wahr und lässt sie nach den Tests von Nuklearwaffen in dieser auf den ersten Blick paradiesisch anmutenden Umgebung als grelle Reflexionen im Bild erscheinen. An wiederum anderer Stelle ist die Störung der Homosphäre durch den Menschen augenfälliger. Almut Linde hat in „Dirty Minimal“ den Blick auf eine besondere Art von Wolken gerichtet. Aus den Schloten des Kohlekraftwerkes Frimmersdorf stiegen über Jahrzehnte die Rückstände verfeuerter Braunkohle. Nicht nur durch sichtbare Partikel bedrohen sie die Luft, freigesetzte Gase befördern zudem den Klimawandel, die gegenwärtig wohl größte Bedrohung des leicht aus dem Gleichgewicht zu bringenden Lebensraumes Luft.
Die Liste der Störungen, durch die das unauffällig lebenserhaltende Element in der Homosphäre aus seiner notwendigen Gleichförmigkeit gebracht wird, ist lang. In der Kunsthalle Mainz wird sie sichtbar, die Ausstellung verschafft dem kränkelnden Organ Luft dringend notwendige Aufmerksamkeit.
Jan Bykowski arbeitet in Berlin als Journalist für Kunst und Märkte.
Homosphäre
10.6. – 25.9.2022
Kunsthalle Mainz
Am Zollhafen 3 – 5
D-55118 Mainz
Tel.: +49-6131-126936
Di – Fr 10 – 18 Uhr, Mi 10 – 21 Uhr, Sa + So 11 – 18 Uhr
www.kunsthalle-mainz.de
Text: Jan Bykowski
Bild: Kunsthalle Mainz
Erstveröffentlichung in kunst:art 86