Krieg – und doch Alltag

19.10.2022 – 24.2.2023 | Abgeordnetenlobby auf der Plenarsaalebene im Reichstagsgebäude

Ein hübscher Blumenstrauß, sauber in Papier und Cellophan verpackt, aber so, dass man die Blütenkelche der gut zwei Dutzend Rosen sehen kann. Die Blumen liegen auf der äußeren Fensterbank eines Geschäftes: warum? Hat sie der Besitzer nur kurz da draußen deponiert, um im Geschäft schnell Brötchen zu kaufen? Sind sie als schüchterne Gabe gedacht für jemand dort drinnen? Oder …? Eine etwas rätselhafte, aber eigentlich doch ganz banale Alltagssituation ist es, die uns die Fotografin Yevgenia Belorusets hier zeigt. Das Unnormale, Verstörende aber ist im Hintergrund des Bildes zu sehen: Hinter der Hausecke, jenseits des kopfsteingepflasterten Gehweges ist die Fahrbahn mit stählernen Panzersperren blockiert – der ganz normale Alltag in der Ukraine.

Die 1980 in Kiew geborene Fotografin bekam für ihre Arbeit schon eine ganze Anzahl von Auszeichnungen, darunter das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und den Joan Wakelin Preis, der gemeinsam von der Zeitung The Guardian und der renommierten Royal Photographic Society ausgelobt wird. In der Abgeordnetenlobby des Berliner Reichstagsgebäudes sind derzeit die Resultate eines Auftrags seitens des Deutschen Bundestags zu sehen: Das „Kiewer Kriegstagebuch, eine Installation“ beschreibt, Tag für Tag genau registrierend, den Alltag der ukrainischen Hauptstadt, der eben keiner mehr ist seit dem russischen Überfall. Und wenn dieser Tage in den Nachrichten von erneutem Raketenbeschuss Kiews die Rede ist, dann kommt einem, bei der erwähnten Szene mit dem Blumenstrauß, unwillkürlich der Gedanke: Musste sich da jemand bei Luftalarm eiligst in einen Schutzraum flüchten und die Blumen dabei im Stich lassen?

Yevgenia Belorusets, die heute in Berlin und Kiew lebt, ist neben ihrer fotografischen Tätigkeit auch Schriftstellerin und Aktionskünstlerin. Ihr Schaffen bewegt sich zwischen Kunst, Literatur, Reportage und dem unmittelbaren politischen Engagement. So wurde sie zur Gründerin eines eben dieser Schnittmenge gewidmeten Journals namens „Prostory“. Für ihre künstlerischen Langzeitprojekte nimmt sie engen Kontakt zu Menschen auf, die nicht unbedingt im Blickpunkt der medialen Aufmerksamkeit stehen: In „Gogol Street 32“ werden die Bewohner einer „Kommunalka“ porträtiert, einer kollektiven Wohnanlage. Der mühsame Kampf gegen Verfall und sozialen Abstieg wird bildwürdig (und insofern publik), ohne aber Gegenstand eines voyeuristischen Blicks zu werden. Die Entwicklung eines Vertrauensverhältnisses war auch die Basis einer Fotoserie, die eigens für das Auftragsprojekt des Bundestages entstand. Dabei geht es um Familie und persönliches Umfeld einer Menschenrechtlerin und Juristin, die seit Jahren für die Rechte von Sinti und Roma eintritt (und dafür eine eigene Menschenrechtsorganisation gründete). Diese Bevölkerungsgruppe gehört in der Ostukraine zu denjenigen, die unter dem Konflikt am meisten leiden – und unter ihnen wiederum sind es die Frauen, deren Situation besonders prekär ist.

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Yevgenia Belorusets. Nebenan / Поруч
Das Kiewer Kriegstagebuch, eine Installation
19.10.2022 – 24.2.2023
Abgeordnetenlobby auf der
Plenarsaalebene im Reichstagsgebäude
Die Ausstellung kann im Rahmen von
Architekturführungen des Bundestages
und an einigen speziellen Tagen besucht
werden. Weitere Infos unter:
www.kunst-im-bundestag.de

Text: Dieter Begemann
Bild: Das Kiewer Kriegstagebuch
Erstveröffentlichung in kunst:art 88

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Begemanns Blog: Sternschnuppen An dieser Stelle soll es um ästhetische Sternschnuppen gehen und, wie es die Schnuppen so machen, sollen sie hin und her zischen auf manchmal verblüffenden Kursen – kreuz und quer! Ich konnte (und musste zum Glück mich auch nie) entscheiden zwischen praktisch-bildkünstlerischen und theoretischen Interessen: Ich liebe Malerei und Bildhauerei, begeistere mich für Literatur, bin ein Liebhaber von Baukunst und Design –aber meine absolute Leidenschaft gehört der Gestaltung von Gärten und Autos. Und, eh ich’s vergesse: natürlich dem Film!!