Malverbot?

30.4. – 14.8.2023 | Museum Lyonel Feininger

„Deutschstunde“, der 1968 erschienene Roman von Siegfried Lenz, gehörte jahrzehntelang zum eisernen Lektürebestand eines modernen, sich als kritisch definierenden schulischen Lektürekanons: Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus fokussiert sich dort in der Figur des Malers Nansen. Ihm sitzt der Dorfpolizist, der Vater des Ich-Erzählers, im Nacken, der in paranoider Pflichterfüllung das von den Kulturfunktionären der Partei verhängte Malverbot auch noch im letzten Küstenwinkel durchsetzt. Dem Maler bleibt, vom Erzähler assistiert, als einzige Möglichkeit die heimliche Verfertigung kleinstformatiger „Ungemalter Bilder“ in einer versteckten Kammer. Wer ist denn nun dieser Nansen? Durch die Beschreibung des Ambientes an der sturmzerzausten Küste, die expressive Farbigkeit der düsteren oder entzündeten Wolkenhimmel, der rollenden oder bleigrauen Wogen der Aquarelle, aber auch noch durch die Tatsache, dass Emil Noldes bürgerlicher Klarname eigentlich fast identisch, nämlich Hansen lautet – durch all das wird klar, dass eben dieser Nolde im Roman gemeint ist.

Eine literarische Fiktion allerdings ist schließlich nicht irgendwelcher historischen oder biografischen Realität Rechenschaft schuldig. Tatsächlich aber dockt sich der Romanautor nahtlos an – an der vom Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten Erzählung des eigenen Lebens und Schaffens. Emil Nolde, ja schon bekannt aus dem Umkreis des Blauen Reiters, wurde damals zum Inbegriff des modernen deutschen Künstlers, dessen künstlerische und moralische Integrität fraglos belegbar war durch die im Nationalsozialismus erlittene Verfolgung. Noldes „Ungemalte Bilder“ waren zentraler Bestandteil der Selbstdarstellung, sie wurden zum Mythos.

Das Quedlinburger Museum Lyonel Feininger untersucht nun in einer hochinteressanten Ausstellung „Emil Nolde. Mythos und Wirklichkeit“. In ihrem Zentrum stehen die „Ungemalten Bilder“, ihre tatsächlichen Entstehungsbedingungen und ihre nachherige, zielgerichtete Funktionalisierung, durch welche ein (offenbar bis zum Kriegsende überzeugter) Anhänger des Nationalsozialismus zum Inbegriff eines Opfers werden konnte. Die Ausstellung, in Kooperation mit der Nolde Stiftung in Seebüll erarbeitet, berücksichtigt selbstverständlich die Ergebnisse der aktuellen kunstwissenschaftlichen Forschung zu Nolde: Darüber hinaus aber befragt sie kritisch die Rolle, welche die Kunstwissenschaft ihrerseits in den Nachkriegsjahren gespielt hat bei der Inszenierung des Nolde-Mythos vom verfolgten Künstler. Denn nach dem Tode des Künstlers 1956 verfestigte sich diese Erzählung (bis hin zur „Deutschstunde“ noch ein Jahrzehnt später), aus der alle Hinweise auf Sympathien zum Nationalsozialismus verschwanden. Einigen Anteil daran hatte der einflussreiche Kunsthistoriker Werner Haftmann, der 1958 die bis dahin unveröffentlichte und erheblich „frisierte“ Geschichte der angeblichen Entstehung der „Ungemalten Bilder“ popularisiert.

Dieter Begemann ist Künstler und Kunstwissenschaftler. Er liebt außerdem Architektur, Design, Literatur und Italien!

Emil Nolde. Mythos und Wirklichkeit. Die Ungemalten Bilder
30.4. – 14.8.2023
Museum Lyonel Feininger
Welterbestadt Quedlinburg
Schlossberg 11
D-06484 Quedlinburg
Tel.: +49-3946-68959380
Mo + Mi – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 9 €, erm. 6 €
www.museum-feininger.de

Text: Dieter Begemann
Bild: Museum Lyonel Feininger
Erstveröffentlichung in kunst:art 91

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Begemanns Blog: Sternschnuppen An dieser Stelle soll es um ästhetische Sternschnuppen gehen und, wie es die Schnuppen so machen, sollen sie hin und her zischen auf manchmal verblüffenden Kursen – kreuz und quer! Ich konnte (und musste zum Glück mich auch nie) entscheiden zwischen praktisch-bildkünstlerischen und theoretischen Interessen: Ich liebe Malerei und Bildhauerei, begeistere mich für Literatur, bin ein Liebhaber von Baukunst und Design –aber meine absolute Leidenschaft gehört der Gestaltung von Gärten und Autos. Und, eh ich’s vergesse: natürlich dem Film!!