Francesco Clemente gehört zu den wenigen Malern, die man auch zu den bemerkenswerten Gelehrten zählen kann. Es lässt sich unzählige Stunden über 78 Tarot-Karten nachsinnen, die er 2011 in den Uffizien in Florenz präsentierte, auf denen es offensichtliche und verborgene Hinweise auf sein Leben und seine Freundschaften mit großen Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts in verschiedenen Städten dieser Erde gibt, die sein Denken und seine Malerei tief beeinflussten. Neben seiner Geburtsstadt Neapel, wo er 1952 zur Welt kam, zählen dazu auch die indische Stadt Madras sowie New York, so dass viele in ihm einen amerikanischen Künstler mit europäischen Wurzeln sehen.
Entscheidend in der Präsentation dieser Tarot-Karten war jedoch die Serie von Selbstporträts, in denen Clemente in die Haut der zwölf Apostel – der Jünger Jesu Christi – schlüpfte. Sich selbst als Heiligen Matthäus, ungläubigen Thomas oder als den Christus-Verräter Judas darzustellen, erfordert eine erhebliche Portion an tiefgreifenden Überlegungen (und auch etwas wie ein wenig Selbstverleugnung?).
Rudolf Augstein hat in einem bemerkenswerten Artikel („Der Fels, der nicht in Rom war“) die Ungereimtheit der Christenverfolgung, die mit dem großen Brand Roms begann, der dem römischen Herrscher Nero als Vorwand zur Vernichtung der Christen diente, mit Präzision dargestellt. Etwa als er über die Person des Apostels Paulus nachdenkt und feststellt, dass der angebliche römische Bischof seinen engsten Vertrauten, den Apostel Petrus, mit keinem einzigen Wort in seinen Schriften erwähnt … Es ist eine virulente Philippika Augsteins, der auf zahlreiche Ungereimtheiten dieses Jahres 64 hinweist und einige große Mythen in Frage stellt.
Kaum vorstellbar, dass es einem so gebildeten und belesenen Künstler wie Francesco Clemente entgangen ist. Man fragt sich also ein wenig verwundert vor den Bildern der zwölf Apostel, die in den wunderbaren Räumlichkeiten im Schloss Derneburg (es gehörte einst Georg Baselitz) ausgestellt sind, ob dem Glauben der Vorrang vor der historischen Wahrheit eingeräumt wird.
Neben Clemente stellt im Schloss auch der junge Amerikaner Robert Nava aus, der 2011 seinen Master an der Yale University machte. Er malt Kobolde und schräge Kreaturen in nur 27 Sekunden (sein Rekord!), die dann für 100 000 Dollar verkauft werden.
Was jedoch bei dieser Malerei überrascht, ist die Intensität der Farben und die genau angewandten Pinselstriche, die den großformatigen Bildern eine eigentümliche Ausdruckstärke verleihen. Während Clemente neben seinen Aposteln auch eine ganz andere Thematik (For a history of Women) verfolgt, die eher seiner eigentümlichen Denk- und Ausdrucksweise entsprechen, schwelgt Nava in seiner fast kindlichen, dennoch sehr ausdrucksstarken Malweise.
Dr. Milan Chlumsky promovierte an der Pariser Sorbonne über Ästhetik und den tschechischen Poetismus.
Francesco Clemente. Selbstportraits als die Zwölf Apostel
bis zum 7.4.2024
Robert Nava. Mirror Quest
bis zum 12.11.2023
Kunstmuseum Schloss Derneburg
Schlossstr. 1
D-31188 Derneburg
Sa + So 11 – 17 Uhr
Eintritt: 16 €, erm. 12 €
www.sdmuseum.de
Text: Dr. Milan Chlumsky
Bild: Kunstmuseum Schloss Derneburg
Erstveröffentlichung in kunst:art 93