Blinder Fleck

3.7. – 18.9.2022 | Kunsthalle Gevelsberg

Der Begriff „Blinder Fleck“ stammt aus der Physiologie und bezeichnet den Bereich des Auges, an dem das Sehen aussetzt und Objekte faktisch ausgeblendet, das heißt, nicht mehr erkannt werden. Im übertragenen Sinn verwenden auch Psychologie und Soziologie den Begriff. „Blinde Flecken“ stehen dann für unbewusste, verdrängte oder auch tabuisierte gesellschaftliche und individuelle Phänomene.

Da der eigene Blinde Fleck selten ins eigene Blickfeld gerät, sind meist andere Menschen nötig, um uns auf Unbewusstes, Verdrängtes oder Tabuisiertes aufmerksam zu machen. Denn sie, die Ande-ren, haben einen Blick „von außen“ auf die von uns ausgeblendeten Themen und Phänomene.

Der Künstler Youngchul Kim ist solch ein aufmerksam beobachtender Mensch. 1982 in Korea gebo-ren und dort aufgewachsen, studierte er von 2014 bis 2020 bei der Malerei-Professorin Cordula Güdemann an der Kunstakademie Stuttgart. In seinen vom asiatischen Kulturkreis geprägten Blick-winkel fallen viel eher und deutlicher die Sonderlichkeiten und Ungereimtheiten der deutschen, der europäischen, der „westlichen“ Lebensweisen und -weisheiten. Sein „Außenblick“ kann die Blinden Flecken des „westlichen“ Kulturkreises klarer erkennen – und enttarnen.

Youngchul Kim macht das künstlerisch mit bisweilen cartoonartig anmutenden Bildern. So etwa beim „Hasenjäger“, der als leicht grimmig blickender, älterer Mann mit Jagd-Jacke und kurzen Ho-sen darstellt wird. Unter den Arm ein (Spielzeug-)Gewehr geklemmt, in der Hand ein Möhrchen hal-tend.
Kims analytischer Blick – und auch sein mutiger Pinselstrich – enthüllt kafkaesk und manchmal auch verballhornend „Egomanie, Narzissmus, Nationalismus, Krieg- und Migrationserfahrung“, be-tont Kuratorin Kasia Lorenc von der Kunsthalle Gevelsberg. Lorenc: „Eine außergewöhnliche Male-rei, deren Tragkraft von innen nach außen führt.“

25 groß- und mittelformatige Arbeiten Youngchul Kims zeigt die Ausstellung. Etwa die Hälfte gehört dem Bochumer Unternehmer und Kunstsammler Frank Hense, 13 Gemälde sind Leihgaben der Stuttgarter Galerie Fuchs.

Die Kunsthalle Gevelsberg öffnete ihr Tor vor gut einem Jahr, im Juni 2021. Das junge Museum be-findet sich in einem alten Gebäude aus dem Jahr 1913 – einem ehemaligen Gotteshaus der Evan-gelisch-Freikirchlichen Gemeinde. Sammler Frank Hense ließ die Kirche (im wahrsten Sinne des Wortes) im Dorf – und aufwändig restaurieren. Die alten Kirchenfenster sorgen für erstaunliche Lichteffekte in den hellen Innenräumen der Kunsthalle. Eine wahre „Perle“ und ein kultureller Ge-winn für das südliche Ruhrgebiet.

Gevelsberg liegt zwischen Wuppertal und Hagen. Mit Auto und Navi ist die Kunsthalle leicht zu fin-den. Wer mit Bus und Bahn anreist (9-Euro-Ticket!), muss einen guten Orientierungssinn haben. Denn auf den neuen Kunsttempel weist leider (noch) kein Wegweiser hin.

Siegfried Schmidtke arbeitet als Journalist im Rheinland.

Yongchul Kim. Blinder Fleck
3.7. – 18.9.2022
Kunsthalle Gevelsberg
Schillerstr. 16
D-58285 Gevelsberg
Tel.: +49-2332-6641683
So 14 – 18 Uhr
Eintritt: 5 €, erm. 3 €
www.hense.art

Text: Siegfried Schmidtke
Bild: Kunsthalle Gevelsberg
Erstveröffentlichung in kunst:art 86