Ausstellung zum Phänomen des Flaneurs im Kunstmuseum Bonn

Kunstmuseum Bonn | bis zum 13.1.2019

Ernst Ludwig Kirchner, Straßenszene, 1926

Der fließende Blick

Rastlos und wenig zielgerichtet treibt der Flaneur durch die Straßen der Stadt. Sein Blick schweift, springt, verharrt entlang der willkürlich aufgenommenen Reize seiner flirrenden Umgebung. Er durchwandert die moderne Metropole, in der die Anonymität der Menge und die Flüchtigkeit des Eindrucks zum neuen Alltag gehört.

Die Figur des Flaneurs hat ihren Ursprung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Nicht zu verwechseln ist er mit seinem aristokratischen Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert, dem Dandy, der sich in Kleidung, Bildung und Attitüde vom Bürgertum distanzierte und nach Müßiggang sowie der Kultivierung des Schönen strebte, wie Charles Baudelaire in seinem Text u¨ber jenen „Maler des modernen Lebens” schreibt. Mit den Gleichheitsforderungen des Bürgertums entwickelte sich der Flaneur indes zum Bestandteil moderner Urbanität, die Straßen von Paris waren seine Geburtsstätte. Hier wird die wirtschaftliche Überlegenheit des Dandys abgelöst durch die stilistische und moralische Überlegenheit einer bürgerlichen Bohème. Dabei bewegt sich der Flaneur entlang der Entwicklung eines modernen Konzepts von Zeit, über das die Begleiter der Flaneure Aufschluss geben: Während man um 1840 beim Flanieren gerne eine Schildkröte mit sich führte, um an ihr das ausdrücklich gemäßigte Tempo zu orientieren, waren es rund hundert Jahre später bereits Hunde, die eine langsamere Laufgeschwindigkeit und gelegentliches Stehenbleiben legitimierten. Im Zuge der Industrialisierung war Zeit Geld und das Flanieren wurde schließlich durch das geschäftige Eilen abgelöst.

Das Kunstmuseum Bonn folgt dem Flaneur durch den instabilen Organismus der modernen Großstadt – und verlängert seinen Weg in die urbanen Räume der Gegenwart. Die Schau verharrt damit nicht in historisch-diachroner Betrachtung, sondern transponiert das Phänomen des Flaneurs durch mehr als 100 Jahre. Künstlerische Reflexionen dieses Motivs aus dem Impressionismus, Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit sind vertreten. Sie machen Paris und Berlin, mit ihren Promenaden, Passagen und Boulevards, nicht nur als zentrale Metropolen der Epoche begreifbar, sondern auch als erste Reviere des Flaneurs. Malerische Reflexionen des Urbanen, beispielsweise von Vincent van Gogh, George Grosz, Max Ernst, Lovis Corinth und Ernst Ludwig Kirchner, werden ab den 1930er Jahren verstärkt durch die Fotografie ergänzt, wie Werke unter anderem von Brassaï und Alfred Stieglitz verdeutlichen. Zeitgenössische Reflexionen des Stadtraums reichen indes von Film über Audiowalk bis hin zu Performance. Insgesamt fächern in Bonn 160 Werke von 65 Künstlerinnen und Künstlern das heterogene Flaneur-Motiv auf.

Während bereits die Moderne und ihr industrieller Wandel den Zeitbegriff der Menschen neu strukturierten, hat heute die Geschwindigkeit erneut rasant zugenommen. Wenig verwunderlich also, dass Künstler wie Rezipienten gerne den Blick zurück auf Müßiggang und Reflexion werfen und der Figur des Flaneurs ungeahnte Aktualität verleihen.

Ninja Elisa Felske ist Kunsthistorikerin und promoviert derzeit über Pablo Picasso.

Der Flaneur. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart
bis zum 13.1.2019
Kunstmuseum Bonn
Museumsmeile
Friedrich-Ebert-Allee 2
D-53113 Bonn
Tel.: +49-228-776260
Di – So 11 – 18 Uhr, Mi 11 – 21 Uhr
Eintritt: 7 €, erm. 3,50 €
www.kunstmuseum-bonn.de

 

Text: Ninja Elisa Felske | Erstveröffentlichung kunst:art 64
Bild: Kunstmuseum Bonn