Der mexikanische Künstler Mario García Torres (geboren 1975) wendet investigative künstlerische Strategien an, um in Archive, Landschaften und Orte eingeschriebene und verborgene Geschichten und Narrative offenzulegen und die Beschaffenheit und Begrenztheit historischer Aufzeichnungen und Objekte aufzuzeigen. Dabei tauchen in seinem Werk verschiedene, oft auch zeitversetzte, Erzählformen auf, wie fiktive Briefwechsel, Reportage und Icherzählungen, die Formen der Aneignung, Wiederaufführung und Wiederholung inszenieren. Die Ausstellung An Arrival Tale in der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary–Augarten löst mit einer konzeptuellen Geste die Arbeiten des Künstlers in der TBA21-Sammlung aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen und Fixierungen und öffnet sie als Kollektion von Narrativen und künstlerischen Experimenten für neue Einschreibungen.
„An Arrival Tale argumentiert anhand meiner Arbeiten aus der TBA21-Sammlung, dass der Raum der Ankunft, dieser Raum in dem man sich selbst neu erfinden kann, ein spannender sein könnte und dass er historisch betrachtet ein Ort des Aufbruches war”, so García Torres.
Was sind die tatsächlichen Bedingungen, was sind die politischen Ereignisse, und was sind die Träume, die sich in die Körper der Menschen und in ihre Bewegungen einschreiben? Was bleibt zurück und was wird mit Neuem erfüllt? Ist der Moment der Ankunft ein Neuanfang oder wird er implizit von den Erfahrungen des Verlusts, der Absenz und der Entkörperung bestimmt? Die konzeptuelle Rahmung der Ausstellung als „Geschichte des Ankommens“ eröffnet Lesarten und Erfahrungsperspektiven und fordert folglich das Denken über die im Begriff des Ankommens verankerten Möglichkeiten von Neuerfindung und Transzendenz heraus. Das Konzept wird von zwei narrativen Momenten getragen – dem der Ankunft und der Rückkehr –, die sich anhand der Arbeiten entfalten. Tea beschreibt García Torres’ Aufenthalt in Kabul, Afghanistan, wohin er auf der Suche nach dem One Hotel aufgebrochen war, das der italienische Künstler Alighiero Boetti in den 1970er-Jahren gegründet und diesem damit einen neuen Lebensinhalt verliehen hatte. Diesem Film thematisch voraus geht die Arbeit Shar-e Naw Wanderings (A Film Treatment), die aus einer Serie fiktionaler Faxe aus dem Jahr 2006 an den 1994 verstorbenen Boetti besteht. Sounds Like Isolation to Me, ein museographischer Essay über das Leben im Exil und die Karriere des Komponisten und Musikers Conclon Nancarrow, untersucht das Ringen und den Widerspruch zwischen dem sozialen und politischen Bewusstsein und der autopoietischen Idee von Abgeschiedenheit als fruchtbarer Ort der Kreativität. The Way They Looked at Each Other, eine neue Auftragsarbeit von TBA21, reflektiert über die Aussagekraft zweier fotografischer Schnappschüsse, die in der Untersuchung eines Kriegsverbrechens in Bagdad, Irak als Beweismittel verwendet wurden und Fragen nach der visuellen Politik der Gegenwart aufwerfen. Vorstellungen von zeitlicher Verschiebung, Spekulation und Wiederaufleben prägen auch Carta Abierta a Dr. Atl (Open Letter to Dr. Atl), ein Briefwechsel mit einem toten Künstler über die möglichen Auswirkungen eines Eingriffs in die unberührte mexikanische Landschaft um Guadalajara.
An Arrival Tale wurde im Dialog mit MigrantInnen und Asylsuchenden in Österreich entwickelt. Als VermittlerInnen tragen sie mit Übersetzungen, ihren Interpretationen und Geschichten zur Ausstellung bei und schaffen so eine zusätzliche Erfahrungsebene, um über den Zusammenhang von Aufbruch, Ankunft und Rückkehr nachzudenken – jene eng mit Begriff des Exils verbundene Tropen. Der neugeschaffene Raum für Fragen und Perspektiven ermöglicht eine Untersuchung der Realität, der Begehren und der Komplexitäten von Migration, Vertreibung und Mobilität und lässt uns imaginierte, verkörperte, besetzte, konstruierte, bewohnte, zurückgelassene und durchlebte Zeiten und Orte wiederaufsuchen.
Text: Thyssen-Bornemisza Art Contemporary | Foto: Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
Externer Link: Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
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