Freiheit statt Rollenzwang

3.2. – 21.5.2023 | Schirn Kunsthalle Frankfurt

In monochromer Fotografie verewigt steht eine junge Frau im männlich-konnotierten, maßgeschneiderten Schießanzug. Das Gewehr im Anschlag und der wütende Blick lassen hoffen, dass kein lebendiges Ziel erfasst wird. Zu sehen ist Niki de Saint Phalle, welche das Frau-Sein neu inszenierte, Rollenmuster aufbrach und auf die eigenen Werke schoss, um ihnen Leben einzuhauchen. Durch eingebaute Farbballons, welche aufgeschossen einen zufälligen Farbverlauf – ähnlich einer Blutspur – freigeben, erweckte sie ihre Reliefs auf paradoxe Weise zum Leben. Die berühmten interaktiven Schießaktionen arrangierte die Künstlerin im Kontext der Kubakrise und der nuklearen Bedrohung des Kalten Krieges. Provokant bezog sie das Publikum mit ein, in einen komplizenhaften Akt der machtvollen Zerstörung: den gemeinsamen “Mord“ am Werk. Mit Hemmung konfrontiert, zwang sie die Einbezogenen, diese zu überwinden, das Kunstwerk zu beschießen, gewalttätig, ja zerstörerisch zu werden, und katapultierte sich damit als Mitbegründerin des Happenings in den Rang der angesehenen Künstlerin in einer ansonsten männlich dominierten Kunstszene.

Soziale und politische Themen wie Stigmatisierung, Frauenrechte und der Klimawandel bilden in den fünf Jahrzehnten ihres Schaffens das Zentrum ihrer Arbeiten. Facettenreich in Medien wie Malerei, Zeichnungen, Schriften, Großplastiken, Film und Installation ist dies nun im Rahmen der Sonderausstellung „Niki de Saint Phalle“ in der Kunsthalle Schirn zu bestaunen. In sechs thematischen Bereichen führt die Schau mit rund hundert Arbeiten durch das radikale wie farbenfrohe Œuvre europäischer Pop-Art. Auch Tief- bzw. Ausgangspunkte ihrer Künstlerbiografie werden im Rahmen der Ausstellung sichtbar. So zeugt das leichtfüßig wirkende Bild „Ballettklasse“ (1953–1955) in Wahrheit von der tiefen Krise des psychischen Zusammenbruchs im Alter von 22 Jahren und damit verbundenem Klinikaufenthalt. Hier fand sie Rettung und ersehnte Katharsis in der Übersetzung von Gefühlen in Kunst. In Zeichnung und Malerei ausgedrückt verloren sie ihren Schrecken und de Saint Phalle konnte die Klinik und mit ihr das „schwarze Land des Wahnsinns“ hinter sich lassen.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem tradierten Weiblichen, dem normierten Frauenbild der 50er- und 60er-Jahre und die Hinterfragung desselben wird Mittelpunkt ihres Schaffens. Der Frauenkörper besetzt von fremden Einflüssen patriarchaler und politischer Machtinteressen birgt für sie das Unbehagen in der Kultur, den Zorn über eine Gesellschaft, welche Freiheit verspricht – nicht aber für Frauen. Ihre Bräute sitzen auf dem „falschen“ Pferd der Ehe oder heiraten gar den Tod. Farbenfroh und knallbunt rebellieren die großformatigen Frauenskulpturen „Nanas“, welche sie als ein „Jubelfest der Frauen“ bezeichnet, dem entgegen und begründen im Spiel mit Proportionen ein von Unterdrückung befreites Matriarchat. Bunt, farbgewaltig und fast überfordernd lebendig wirken ihre Werke im Ausstellungsarrangement der Kunsthalle, welche zu Ehren de Saint Phalles einen farbenfrohen Kosmos voll Leben und Dynamik präsentiert.

Johanna Bayram lebt und arbeitet als freie Autorin in Köln und im Saarland.

Niki de Saint Phalle
3.2. – 21.5.2023
Schirn Kunsthalle Frankfurt
Römer­berg
D-60311 Frank­furt
Tel.: +49-69-2998820
Di – So 10 – 19 Uhr, Mi + Do 10 – 22 Uhr
Eintritt: 12-14 €, erm. 10-12 €
www.schirn.de

Text: Johanna Bayram
Bild: Schirn Kunsthalle Frankfurt
Erstveröffentlichung in kunst:art 90