„Opfer und Überlebende sind die Hauptzeugen des Geschehenen, wir sind keine Statisten.“ Dieser Satz könnte als Leitmotiv über der Ausstellung der Kunstsammlung Jena stehen: Er stammt von Ibrahim Arslan, einem Überlebenden des rechtsterroristischen Brandanschlags in Mölln 1992. Im zentralen Fokus von „Offener Prozess“ steht die Auseinandersetzung mit dem, was in der Öffentlichkeit unter dem Namen NSU-Komplex längere Zeit für Aufregung und Empörung sorgte. Das von Ayşe Güleç und Fritz Laszlo Weber entwickelte Konzept möchte nun aber nicht den unzähligen Erörterungen und Erklärungversuchen des schockierenden Phänomens, dass sich rechtsradikaler Terrorismus inmitten der Gesellschaft entwickeln und offenbar auch decken ließ, weitere hinzuaddieren. Nein, statt soziologischer und psychosozialer Theorie und Metatheorie will „Offener Prozess“, der Name ist Programm, eine Geschichte des NSU erzählen, in der die Opfer und Davongekommenen das Wort haben, wie es das einleitende Zitat unmissverständlich deutlich macht.
Das „lebendige Erinnern“, wie man es in der Kunstsammlung Jena definiert, will die Perspektive umdrehen, weg von der „Normalgesellschaft“ drumherum, hin zu den Marginalisierten. So beginnt die Ausstellung explizit nicht mit den Verbrechen des NSU, sondern führt uns in die Leben, die existierten und in die diese Taten einbrachen. Das ist emotional und das soll auch so sein. Aber mehr: Zeugen und Zeuginnen sprechen zu lassen, bedeutet nicht nur, etwas zu hören, etwas zu sehen, was außerhalb unseres gewöhnlichen Blickfeldes liegt und was wir sonst nicht erfahren hätten, sondern öffnet den Weg zu einer „emotional-kognitiven Handlung“, wie es die Kuratoren formulieren. Von der emotionalen Ge- und Betroffenheit also zur Erkenntnis. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Handlung: Intendiert nämlich ist die Eröffnung einer „sozial-politischen Praxis der Verbindung“. „Wir stellen uns solidarisch zu den Erzählenden und nehmen ihre Geschichten auf. Indem wie uns zu ihnen stellen, entsteht auf diese Weise eine politische Form des Gedenkens, die sich performativ im Akt des Zuhörens und Erzählens kollektiv herstellt und fortschreibt.“ Ein offener Prozess, wie gesagt.
Den NSU wirklich als Komplex zu verstehen, bedeutet für die Ausstellungsmacher auch, den Blick zu erweitern auf die gesamte, immer noch nicht ausreichend aufgearbeitete Geschichte der rassistischen und rechts-motivierten Gewalt in Ost- und Westdeutschland. Künstlerische Beiträge unter anderem von Harun Farocki, Hito Steyrl und Forensic Architecture lassen die Lebensrealitäten von Gastarbeit und Migration sprechen, von Ausgrenzung und Alltagsrassismus. Eine parallele Web-Ausstellung ergänzt die physische Schau im Museum Jena, die in der Folge in verschiedene deutsche und europäische Städte wandern wird. Ein Vermittlungs- und Begleitprogramm ist integraler Teil dieser Ausstellung, die sich als eindringliche „Aufforderung zum Handeln“ versteht.
Offener Prozess
17.7. – 15.8.2021
Kunstsammlung Jena
Markt 7
D-07743 Jena
Tel.: +49-3641-498261
Di – So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 4 €, erm. 2,50 – 3 €
www.kunstsammlung-jena.de
Text: Dieter Begemann
Bild: Kunstammlung Jena
Erstveröffentlichung in kunst:art 80