Jedes vorstellbare Material ist ihm recht: Für den britischen und in Deutschland lebenden Künstler Tony Cragg materialisiert sich Sinn in Holz, Muranoglas, Geröll oder Haushaltswaren aus Plastik. Durch seine raumgreifenden Skulpturen kann der Betrachter wie durch das Brennglas eines forschenden Kindes das Material, seine Mikro- und Makrostruktur betrachten und steht dem Formenreichtum dieser Welt plötzlich staunend gegenüber. So hat es Cragg vielleicht selbst erlebt, als er nach der Schule im Forschungslabor der National Rubber Producers, einem Material-Forschungsinstitut, eine Ausbildung begann. Vor allem aber war es die kindliche Entdeckungslust, die während der Sommerurlaube auf einem Bauernhof in Südengland mit den dortigen fossilen Funden geweckt wurde. Die Untersuchung der Stofflichkeit der Dinge wurde schließlich zum Wesenskern seines künstlerischen Werdegangs. Die Zeichnung stand dabei am Anfang des künstlerischen Erlebens, das erst während des Kunststudiums durch die Bildhauerei, seinem eigentlichen Ausdrucksmittel, abgelöst wurde.
Auch deshalb sind die nun im Berliner Haus am Waldsee unter dem Titel „Drawing as continuum“ ausgestellten Zeichnungen kein Ersatz für die Skulpturen des 1988 mit dem Turner-Preis ausgezeichneten Bildhauers. Das selten ausgestellte und doch über die letzten dreißig Jahre gewachsene zeichnerische Œuvre entsteht den Worten des Künstlers nach nur für ihn und „als Einstimmung“. Mit dem Zeichenstift geht der Künstler aber nicht nur einem technischen Interesse nach, das Formenrepertoire der Dinge visuell zu erproben und zweidimensional festzuhalten.
Die Materie wird durch den künstlerischen Wahrnehmungsprozess auf Papier anthropomorph belebt, multipliziert, gespiegelt, so wie der Künstler in seinen skulpturalen Werken Holz oder Gips zerrt oder schneidet. Dabei changieren die zeichnerischen Serien zwischen figürlichen Ansichten von Köpfen und Gesichtern, deren Konturen so eng ineinandergreifen, dass sie in ihren Einzelheiten fast verschwinden – und präzise und akademisch genau ausgearbeiteten Studien, die Insekten oder auch Brotlaibe wiedergeben. Auf diese Weise dekliniert Tony Cragg seine Beziehung zur materiellen Wirklichkeit und der Erscheinung der Dinge in einer anderen Ausdrucksform als der skulpturalen durch: Der Künstler, wie Cragg es 2016 in einem Vortrag formulierte, ist hier „aktive Kraft“. Er schafft in der Materie neue Freiheiten und sogar neue Träume, kreiert auf Papier eine Entsprechung dieses Moments der Wandlung, wie das geformte Skulpturmaterial. Die schwarz-weißen Linienzeichnungen der Ausstellung werden ergänzt durch Bilder aus Wasserfarben. Die inhaltliche Auseinandersetzung reicht so von organischer und anorganischer Materie bis hin zu mathematischen Algorithmen. Die zeichnerischen Werke sind dennoch nicht als Kopie der Materie zu verstehen: Seine Zeichnungen wie seine Skulpturen folgen der Annahme, der Künstler müsse etwas schaffen, was es bislang noch nicht gibt. Auch wenn diese Kunst nutzlos ist, so ist sie keineswegs sinnlos. Sie ist zunächst einfach da, existent und kann nun betrachtet werden. Das ist schon viel.
In den Zeichnungen von Tony Cragg lässt sich diesen Denkansätzen nachspüren, die hier visuell festgehaltenen Energien oder Gesetzmäßigkeiten mal aus einer anderen Ausdrucksform her betrachten. Wie die Auseinandersetzung des Künstlers in skulpturalen Formen ihren Inhalt findet, das zeigt das Haus am Waldsee an korrespondierend zu den Zeichnungen gezeigten Werken des Künstlers.
Die Journalistin Karolina Wrobel ist sowohl in der Hochkultur, als auch in der Berliner Lokalszene zu Hause.
Tony Cragg. Drawing as Continuum
bis zum 9.1.2022
Haus am Waldsee
Argentinische Allee 30
D-14163 Berlin
Tel.: +49-30-8018935
Di – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 7 €, erm. 5 €
www.hausamwaldsee.de
Text: Karolina Wrobel
Bild: Haus am Waldsee
Erstveröffentlichung in kunst:art 82