Sicher, diese Bilder sind uns vertraut: Wassilij Kandinsky oder Paul Klee am Tisch sitzend, im Sessel, vor volkstümlicher Kleinplastik oder der grünen Wand mit starkfarbigen Gemälden. Gabriele Münter hält hier Partner, Kollegen, Freunde fest, die zum Umkreis des Blauen Reiter gehören. Schauplatz ist zumeist das von der Künstlerin 1909 erworbene Haus in Murnau, das mit seinem Walmdach unter hohen Bäumen und inmitten des Blumengartens auch heute noch zu bezaubern vermag. Aber die Bedeutung von Gabriele Münter (1877–1962) ist nicht erschöpft mit ihrer Rolle im Blauen Reiter. Zwar gehörte sie 1912 in München zu den Gründungsmitgliedern der legendären Künstlergruppe, es gab aber auch eine Gabriele Münter davor – und danach!
Das Hamburger Bucerius Kunst Forum möchte mit seiner Schau „Gabriele Münter. Menschenbilder“ den großen Facettenreichtum und die Innovationskraft ihres Œuvres ausbreiten. Leitmotiv dieser ersten thematisch fokussierten Einzelschau der expressionistischen Künstlerin sind die Porträts, eine Bildgattung, mit der sich Münter etwa von der Jahrhundertwende um 1900 bis in die 1940er-Jahre immer wieder intensiv befasste. Ihre Neugierde auf Menschen und wie sie mit der Umgebung interagieren, lässt sich schon an den Fotografien ablesen, die 1899/1900 auf einer Reise in die USA entstanden: Das „Kleine Mädchen auf der Straße, St. Louis“ ist in seiner Spontaneität und Frische auffällig anders als die üblichen inszenierten und oft ziemlich steifen Fotografien jener Zeit (und nun schon gar die Mädchendarstellungen).
Auch beim malerischen Debüt 1907 in Paris sind die meisten der von ihr gezeigten Arbeiten Porträts. Wenn diese Motivwahl durchaus ungewöhnlich ist – waren Porträts doch als typische Auftragswerke eher weniger angesehen, verglichen mit beispielsweise historischen Sujets –, so ist sie doch Resultat einer bewussten Entscheidung seitens der Künstlerin: „Bildnismalen ist die kühnste und schwerste, die geistigste, die äußerste Aufgabe für den Künstler. Über das Porträt hinaus zu kommen, kann nur der fordern, der noch nicht bis zu ihm vorgedrungen ist“, so zitiert der (wie immer bei Bucerius gut gemachte) Katalog die Malerin selbst. Der Verweis auf das „Geistige“ ist in diesem Zusammenhang interessant, scheint er doch Kandinskys eben damit begründeten Primat der Abstraktion zu unterlaufen … Tatsächlich wird das dem Betrachter mit unverwandten Blick zugedrehte Antlitz der Freundin und Kollegin Marianne Werefkin in Münters Bildnis (1909) über Mantel, Schal und geschmückten Hut mit einer starken Konturlinie zum charakterisierenden Bildzeichen verschmolzen. Die Vorliebe für die starke Linie zieht sich durch das Werk hindurch: Beim „Schlafenden Mädchen“ (1934) könnten sie fast als Bleiruten eines Glasbildes gelesen werden. Ganz anders, aber mit kaum geringerer Intensität begegnet uns die Künstlerin in ihrem späten „Selbstbildnis“ von 1935: Weitaus toniger aufgefasst, mit skeptischem Blick, aber immer noch wach.
Dieter Begemann ist Künstler und Kunstwissenschaftler, der Architektur, Design, Autos und Italien liebt!
Gabriele Münter. Menschenbilder
11.2. – 21.5.2023
Bucerius Kunst Forum
Alter Wall 12
D-20457 Hamburg
Tel.: +49-40-3609960
Täglich 11 – 19 Uhr, Do 11 – 21 Uhr
Eintritt: 9 €, erm. 6 €
www.buceriuskunstforum.de
Text: Dieter Begemann
Bild: Bucerius Kunst Forum
Erstveröffentlichung in kunst:art 89