Hohe Himmel über tiefen Horizonten
Es war nichts weniger als eine künstlerische Revolution, die sich da abspielte im Holland des 17.
Jahrhunderts. Nachdem, am Ende jahrzehntelanger Kämpfe gegen die spanische Herrschaft, die
staatliche Souveränität der protestantischen Niederlande im Rahmen des Westfälischen Friedens
besiegelt war, begann ein wirtschaftlicher Aufschwung, der binnen Kurzem die Niederlande zur
weltweiten Handelsmacht aufsteigen ließ. Und die Künstler waren wichtiger Teil der dramatischen
Innovation auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Ihre Marktsituation hatte sich geändert, der
Wegfall höfischer Strukturen hatte alte Abhängigkeiten beendet – und Möglichkeiten geschaffen. Es
eröffnete sich nämlich mit einem Schlag ein völlig neuer Markt, ein sehr aufnahmefähiger und -bereiter
dazu! Das neue bürgerliche Käuferpublikum hatte, leicht nachvollziehbar, einen anderen
Kunstgeschmack als vormals Kirchen- oder sonstige Fürsten. Ein neues Genre faszinierte alle, die
Landschaft. War die Landschaft bislang eher nur Hintergrund einer Figurenszene gewesen, kam sie nun
in den Rang einer ganz eigenen – und wichtigen! – Bildgattung. Ein neues Bewusstsein griff Raum, das
Interesse an der wirklichen und konkreten Umgebung des menschlichen Lebens. Wobei, natürlich, das
Wetter und der Himmel entscheidende Rollen spielen, die denn auch mit großer Sorgfalt behandelt
werden.
Das Kunst Museum Winterthur zeigt nun (am Stadthaus) eine Kabinettspräsentation, in der wir in dieses
vielschichtige Genre eintauchen können. Die gezeigten Werke entstammen der eigenen Sammlung und
entfalten die so typischen Qualitäten der holländischen Barockmalerei in ihrer markantesten Ausprägung.
Ein schmaler Streifen flachen Landes im Vordergrund, darüber über Dreiviertel des Bildraums ein weiter,
hoher Himmel. Der Horizont fast immer ein wenig unscharf und ungewiss: Die Sättigung der Luft mit
Feuchtigkeit in dieser Landschaft, die ständig zwischen fester Erde und Wasser abwechselt, sorgt für
eine ganz eigenen Lichtstimmung – ein manchmal trübes, aber zuweilen auch perlmuttartiges
Schimmern des Lichtes über Weiden, Dörfern, Flussläufen und Meer. Mit geradezu enthusiastischer
Überfülle schwelgen die Maler in der Wiedergabe von Wasserfahrzeugen, flache Kähne, Boote, Kutter,
große Handelssegler. Deren technischen Details, der Takelung vor allem, ist fast immer große Sorgfalt
gewidmet, man kannte sich in dieser Welt einfach aus mit deren Funktion.
Das nüchterne Interesse an der heimatlichen Landschaft und deren typischen meteorologischen
Phänomenen, wie es ein Jan van Goyen zeigt, ist aber nur ein Aspekt. Denn besonders bei Jacob van
Ruisdael etwa wird die Landschaft allmählich zum Spiegel menschlicher Emotion. Wir sehen, es führt ein
Weg vom meteorologischen Phänomen zum Seelenbild, dem die Romantiker auf der Spur waren. Und
der Brite Richard Long, als aktuelle Position, lässt nachdenken über das Verhältnis von Mensch und
Natur heute.
Dieter Begemann lebt und arbeitet als Künstler und Kunstwissenschaftler in Norddeutschland.
Low Land, New Heights. Holländische Landschaftsmalerei aus der Sammlung
22.6. – 22.9.2024
Kunst Museum Winterthur
Beim Stadthaus
CH-8400 Winterthur
Tel.: +41-52-2675162
Di 10 – 20 Uhr, Mi – So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 19 CHF, erm. 16 CHF
www.kmw.ch
Text: Dieter Begemann
Bild: Kunst Museum Winterthur
Erstveröffentlichung in kunst:art 98