Das Erwachen der Herrgottschnitzer

bis zum 8.9.2019 | Museum am Dom Trier

Roland Perathoner, Pro und Contra, 2018 (Foto Matthäus Kostner)

In den Gebirgsquellen der Südtiroler Dolomiten muss es etwas geben, das die Fähigkeiten zur Handwerkskunst begünstigt: Ganz in der Nähe zu den Tälern der Gelatieri, von wo aus nach wie vor der überwiegende Teil der italienischen Eismacher jedes Jahr zum Sommer aufbrechen, um die Deutschen zu beglücken, liegt ein Tal, dessen Exportschlager weitaus filigraner ist und noch weiter zurück reicht. In der unwahrscheinlichen Abgeschiedenheit des Grödnertals entwickelte sich bereits im 17. Jahrhundert eine bis heute anhaltende Tradition der sakralen Bildhauerkunst mit zahlreichen Bildhauerdynastien, von denen bis heute einige Bestand haben, weshalb es als Tal der „Herrgottschnitzer“ bekannt wurde und über vier Jahrhunderte die europäischen Kirchenräume mit Figuren versorgte.

Während sich die Kunstwelt über diese Zeit stets im Wandel befand und sich spätestens seit dem Aufbruch in die Moderne auch die Anforderungen an die Bildhauerei radikal vom Figurativen zur Abstraktion verschoben, schien es lange Zeit so, als sei in Gröden die Zeit stehen geblieben, was umso weniger verwundert, da die Kirche als exklusiver Auftraggeber, dem gegenüber man sich all die Zeit vordergründig verpflichtete, im Allgemeinen etwas anderes als Avantgarde verkörpert. Die jetzige Ausstellung im Museum am Dom in Trier zeigt jedoch, dass dies zumindest für die jüngste Generation der Grödner Künstler keine schlechte Sache ist – denn ein Akt der Befreiung entwickelt erfahrungsgemäß eine umso größere Kraft, je enger die Zwänge zuvor lagen.

Der „Aufbruch in der dortigen Kunstszene“, den Direktor Markus Groß-Sorgen zur Eröffnung skizzierte, zeigt sich in zwei Bereichen: Die insgesamt elf gezeigten Künstler verbindet eine neue und freie Auffassung von Figuration, und doch liegt ihre Stärke auch in der sichtbaren Grödner Tradition, die eindeutig ihre Spuren in den technischen Fertigkeiten hinterlassen hat und den Beteiligten die ganze Palette des Ausdrucks eröffnet. Was passiert, wenn sich eine Szene, die ihre Tradition über Jahrhunderte so sorgsam kultivierte, plötzlich dem Neuen öffnet, ist verblüffend. Es scheint, als würden die avantgardistischen Entwicklungen der frühen Moderne zurückgespult und mit heutigem Wissen neu aufgelegt.

Da gibt es die eindeutig expressionistische Skulptur von Armin Grunt, in ihrer Farbgebung so virtuos und in der Bewegung so exzentrisch, als sei sie die skulpturale Übersetzung des späten Kirchners. Daneben stehen die sachlichen Figuren von Hermann Josef Runggaldier, die auch aus dem Werk Gerhard Marcks stammen könnten – wobei sich dieser niemals gewagt hätte, seine Schöpfungen im Rahmen einer Milchglas-Installation in den „Dialog“ treten zu lassen. Hier knüpft sich dann auch das zweite Symptom des oben erwähnten Aufbruchs an: Auf der thematischen Ebene ist dies schließlich eine Öffnung von klassisch-sakralen Sujets hin zu einer allgemeineren Ikonografie der menschlichen Begegnung, die alle Künstler verbindet. Auf diese Weise lässt sich die Bildhauerkunst aus Gröden im Jahr 2019 zwar immer noch, aber nicht mehr ausschließlich religiös lesen – auch das ist zeitgemäß.

Zug um Zug – was aus Figuren Menschen macht
bis zum 8.9.2019
Museum am Dom Trier
Bischof-Stein-Platz 1
D-54290 Trier
Tel.: +49-651-7105255
Di – Sa 9 – 17 Uhr, So 13 – 17 Uhr
Eintritt: 3,50 €, erm. 2 €
www.bistum-trier.de/museum

Text: Julius Tambornino
Bild: Museum am Dom Trier
Erstveröffentlichung in kunst:art 68