Taumel als Chance

29.6. – 6.10.2019 | Marta Herford

Naufus Ramírez-Figueroa, Beber y leer el arcoiris (Detail), 2012

Stellung beziehen! Haltung bewahren! Eine Position stärken. – Der Körper und seine Haltung ist im sinnbildlichen wie realen Sinne von großer Aussagekraft. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint mehr denn je auf Positionierungen zu drängen und die Existenz darüber zu definieren. Auch in der Kunstgeschichte ist es seit jeher ein zentraler Motivkomplex: Der Körper in seiner Pose, Spannung und ihrer Auflösung, der Entspannung oder gar dem Fall. Nicht selten sind hier weitere Bedeutungsebenen impliziert: Ikarus, der stürzte, weil er sich zu sehr der Sonne und ihrer Wärme näherte, der Engelsturz, der aus einer Auflehnung gegen Gott resultierte. Fallen ist hier gleich Scheitern, die Lehre für das übermäßige Austesten der Grenzen. „Hochmut kommt vor dem Fall“.

Die zeitgenössische Kunst verhandelt wieder häufig den Körper in seiner Haltung und der scheinbar unvermeidlichen Kehrseite des Falls; früher oder später fordert die Schwerkraft ihren Tribut. Doch anders als in der historischen Motivik wird hier das dem Fall implizite Scheitern auch als Möglichkeit aufgefasst, als Neuanfang, als Bewegung – der Taumel als Chance. Unsere vom Wandel geprägte Gesellschaft verträgt womöglich keine allzu große Starre im Angesicht des wiedererstarkenden Rechtspopulismus in ganz Europa, des Klimawandels, der Genderdebatten, Digitalisierung und künstlichen Intelligenz. In diesen Spannungsfeldern ist die Flexibilität des Körpers mit Weiterentwicklung konnotiert, auch mental bremsen zu statische Positionen die Dynamik.

Die Reflexion dieser Themen in der zeitgenössischen Kunst macht sich nun die Ausstellung „Haltung & Fall – Die Welt im Taumel“ im Marta Herford zum Anliegen. Im Spannungsbogen von politischer Aufladung und poetischer Auflösung präsentieren 25 Künstlerinnen und Künstler die heterogenen medialen und inhaltlichen Ansätze: Während Alexandra Bachzetsis in Performances und Installationen den Körper nutzt, um etablierte Verhaltensweisen und Geschlechterrollen neu zu befragen, bedient sich Mona Hatoum konventioneller Objekte wie beispielsweise eines Spazierstocks; gemeinhin als Unterstützung bekannt, ist er in ihrer Interpretation jedoch verbogen, unfähig, seine Aufgabe zu erfüllen, und wird somit in ein destabilisierendes Gegenteil verkehrt. Cheryl Pope verfremdet Körperlichkeit unter anderem mittels zweier zusammengenähter Kleider, die von einer Stange herabhängend mit Konventionen der Form wie der Spannung des Körpers brechen. Im traditionellen Medium des Tafelbildes lässt Valérie Favres die Bildelemente der Schwerkraft und den Stereotypen trotzen; im dunklen Umraum ihrer Serie „Theatre“ scheinen kunsthistorische und zeitgenössische Motive zu schweben, amalgamiert zu einer entrückten Maskerade.

Weitere Künstler der Ausstellung sind Francis Alÿs, Charles Atlas, Robert Barta, Pauline Curnier Jardin, Denis Darzacq, Marcel Dzama, Christian Falsnaes, Kendell Geers, Katie Holten, Judith Hopf, JocJonJosch, Wilhelm Klotzek, Eva Kot’átková, Henrik Olesen, Chloe Piene, Naufus Ramírez-Figueroa, Sarah & Charles, David Shrigley, Sebastian Stumpf, Aaron van Erp und Peter Welz. Ihre Werke lassen strapazierte, überzeichnete, taumelnde und kämpfende Körper als ein Ringen mit der Welt der Gegenwart begreifen.

 

Haltung & Fall. Die Welt im Taumel
29.6. – 6.10.2019
Marta Herford
Goebenstr. 2–10
D-32052 Herford
Tel.: +49-5221-9944300
Di – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 8 €, erm. 4,50 €
www.marta-herford.de

Text: Ninja Elisa Felske
Bild: Marta Herford
Erstveröffentlichung in kunst:art 68