Stachelige Stille

13.9.2020 – 10.1.2021 | Georg Kolbe Museum

Viele Menschen träumen davon, sich künstlerisch auszudrücken. Was hindert sie daran? Meist ist das eine ganz banale Tatsache: Sie nehmen an, Kunst müsse auf eine bestimmte Art funktionieren. Denn sie kennen die Konventionen und das bildnerische System, das dem Kunstgeschehen von der Gesellschaft zugrunde gelegt wird. Der kreative Ausdruck existiert aber jenseits dieser Normen. Das machen immer wieder Menschen deutlich, deren Kreativität die genannten Blockaden überwindet, weil sie diese erst gar nicht wahrnehmen.

Der Japaner Shinichi Sawada gehört zu diesen Menschen. Seiner Kreativität gibt er ganz plastisch eine Form: In den fein ausgearbeiteten keramischen Objekten sind mittelalterliche Ungeheuer zu erkennen, auch Vielgesichter. Es sind antropomorph zusammengefügte Versatzstücke von Tier und Mensch.
Sawada arbeitet in der Bäckerei einer betreuten Einrichtung für Menschen mit Behinderung in der Präfektur Shiga, westlich von Kyoto. Er ist Autist und kommuniziert kaum mit seinen Mitmenschen. Künstlerisch ohne Vorbildung kreiert er seine Mischwesen bereits seit zwei Jahrzehnten. Er wurde 2013 der breiten internationalen Öffentlichkeit bekannt, als seine Kunst anlässlich der 55. Biennale in Venedig vorgestellt wurde.

Das Georg Kolbe Museum widmet dem Künstler die erste museale Ausstellung seines Werkes in Europa. Die Werke von Shinichi Sawada umkreisen dabei rund 15 Motive, die von ihm immer wieder abgewandelt werden. Neben den animalischen Gestaltungsformen sind es vor allem die Stacheln, welche alle seine Objekte zieren und sie kenntlich machen. Sie sind gleichmäßig und eng gesetzt und verleihen den Objekten eine ganz eigene Fühlbarkeit. Sawada kreiert seine Werke in einer bemerkenswerten Schnelligkeit und Sicherheit. Jedes Objekt entsteht innerhalb weniger Tage. Es wird anschließend von Mitarbeitern seiner Einrichtung gebrannt.

Seine Werke bleiben nicht nur den Betrachtern im Ausland ein Rätsel – gibt der Künstler doch selbst keinen Hinweis zu deren Schöpfung. Auch dieser Umstand kann Grenzen aufheben, in denen wir als Betrachter diesen Werken begegnen. Ohne die Kenntnis der Hintergründe oder Intentionen gibt es eine kraftvolle Konfrontation mit der künstlerischen Ästhetik, die von diesen Objekten ausgeht. Ein Umstand, den bereits Massimiliano Gioni nutzte. Der Leiter der Biennale zeigte Art-Brut-Kunst inmitten akademischer Kunst, ohne die Betrachter darüber aufzuklären. Das Georg Kolbe Museum lädt sein informiertes Publikum nun hierzulande nicht nur zur Auseinandersetzung mit den ästhetischen Formen ein, sondern auch zurmit der Bedingtheit menschlicher Kreativität.

 

 

 

Shinichi Sawada
13.9.2020 – 10.1.2021
Georg Kolbe Museum
Sensburger Allee 25
D-14055 Berlin
Tel.: +49-30-3042144
Täglich 10 – 18 Uhr
Eintritt: 7 €, erm. 5 €
www.georg-kolbe-museum.de

Text: Karolina Wrobel
Bild: Georg Kolbe Museum
Erstveröffentlichung in kunst:art 75