Kunsthaus Zürich zeigt eine Retrospektive zu Francis Picabia

3.6. – 25.9.16 | Kunsthaus Zürich

«Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann» – dieser bekannte Aphorismus von Francis Picabia ist der Titel der retrospektiv angelegten Ausstellung zum Werk des französischen Künstlers, die das Kunsthaus Zürich vom 3. Juni bis zum 25. September 2016 zeigt.

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der in Zürich entstandenen Dada-Bewegung wird dem bis heute unterschätzten Künstler Francis Picabia (1879-1953) eine umfassende Retrospektive gewidmet. Die Ausstellung, die im Rahmen der Festspiele Zürich stattfindet, erkundet anhand von rund 200 Exponaten Picabias frühe Erfolge als impressionistischer Maler sowie seinen essenziellen Beitrag zum Dadaismus und zur Geschichte der modernen Kunst.

IMPRESSIONISTISCH, DADAISTISCH, FIGURATIV UND ABSTRAKT
In wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen, studierte Francis Picabia im Alter von 17 Jahren an der École des Arts Décoratifs in Paris. Erfolgreich verkaufte er seine im impressionistischen Malstil gehaltenen Bilder. Als ihm diese zu dekorativ erschienen, reiste er 1913 nach New York, wo er an der legendären Armory Show teilnahm. Dort kam er mit dem einflussreichen Galeristen Alfred Stieglitz in Kontakt, der ihm noch im selben Jahr eine Einzelausstellung widmete. Zu dieser Zeit entstanden Picabias grösste, mit orphisch-kubistischen Elementen versehene Gemälde. Aber anders als bei den Kubisten Pablo Picasso und Georges Braque, flossen auf diesen Leinwänden die Freude am Experimentieren mit Farbe und die Analyse bewegter Formen im Aussenraum ein.

LIEBHABER VON SPRACHE UND PAPIER, FÖRDERER VON TZARA
Erst nach dem 1. Weltkrieg kehrte Picabia nach Europa zurück. Bei der Geburt von Dada am 5. Februar 1916 war er deshalb nicht in Zürich, sollte durch die enge Freundschaft mit dessen Mitbegründer Tristan Tzara aber bald zu einem seiner Vertreter und wichtigsten finanziellen Förderer werden. In Barcelona gründete er im Januar 1917 die dadaistische Zeitschrift «391», die bis zu ihrer Einstellung 1924 neunzehnmal erschien. Hierin zeichnet sich eine weitere Leidenschaft Picabias ab: das Gedruckte als künstlerisch eigenständiges Format, und die Sprache in Prosa und Lyrik. Picabia hat Zeit seines Lebens Aphorismen, Manifeste, Essays und illustrierte Texte von aussergewöhnlicher Innovationskraft veröffentlicht. Zwischen 1915 und 1920, in seiner dadaistischen Phase, entstanden die «mecanomorphen» Bilder, die zu seiner berühmtesten Werkgruppe zählen. Wegen interner Querelen trennte sich Picabia jedoch 1921 offiziell von der Dada-Gruppe.

WIDER DEN NEOKLASSIZISMUS. THEATER, TANZ UND FILM
In den 1920er-Jahren begann für Picabia, wie für Jean Cocteau, Pablo Picasso und viele andere Künstler seiner Generation die «Retour à l’Ordre» – die sehnsüchtige Rückkehr zu gefestigten Wertevorstellungen. Solche drückten sich künstlerisch in einer konservativen, dem Figurativen und Naturalistischen verpflichteten Formensprache aus. Doch folgte Picabia dieser allgemeinen Stimmung nicht unkritisch: in dieser Dekade schuf er seinen vielfältigsten Werkblock. Zwischen 1923 und 1926 entstanden Wandobjekt-Collagen wie «La Femme aux allumettes» (Privatsammlung) und «Pailles et cure-dents» (Kunsthaus Zürich). Hinzu traten sozialkritische «Monster» (ab 1924) und die filigran-klassizistischen «Transparences» (ab 1927). Die inhaltliche Vielfalt seines Werkes drückte sich auch in einer technischen Experimentierfreude aus: die Emailfarbe Ripolin kam ins Spiel, welche üblicherweise für die Bemalung von Booten verwendet wurde. 1924 arbeitete Francis Picabia zudem als Drehbuchautor, Kostümgestalter und am Bühnenbild der Ballettproduktion «Relâche» sowie am Film «Entr’acte», bei welchem René Clair, Erik Satie, Man Ray und Marcel Duchamp ebenfalls beteiligt waren. Ab 1925 liess Picabia die Hektik von Paris hinter sich und begann, das mondäne Leben an der Côte d’Azur zu geniessen. Wahre Stilexperimente kennzeichnen Picabias Werk in den 1930er- und 1940er-Jahren: Die offenkundig erotischen und politisch nicht unumstrittenen «Pin-Ups», die auf das Zusammenschmelzen verschiedener Fotovorlagen der Massenkultur beruhen und darum als Vorläufer der Pop Art betrachtet werden können; oder dann die so genannten «Punkte», die Picabias Obsession mit der Pastosität von Ölfarben in formal höchster Reduktion offenbaren. Picabia war ein unermüdlicher Neuerfinder seiner Selbst. Nicht erst nach einem Schlaganfall 1951 und bis zu seinem Tod 1953, sondern bereits anlässlich seiner ersten Behandlungen gegen Nervenschwäche ab 1912 in Étival und Lausanne, oszillierte er zwischen künstlerischer Agonie und Euphorie.

GESAMTWERK MIT ÜBERRASCHUNGEN
Unter den grossen Künstlern des 20. Jahrhunderts bleibt Picabia eine heftig diskutierte Persönlichkeit. Zeit seines Lebens widersetzte er sich wertenden Unterscheidungsmechanismen zwischen hoher Kunst und Kitsch oder Konservatismus und Radikalismus. Selbstkritisch und mit beissendem Humor stellt er die Grundsätze der Moderne in Frage. Die Kunstwerke, die Kuratorin Cathérine Hug (Kunsthaus Zürich) gemeinsam mit der Kuratorin am MoMA New York, Anne Umland, ausgewählt hat, führen diese multiple Persönlichkeit vor Augen. Picabias Schaffen fordert unser Verständnis der vielen bekannten «Ismen» heraus, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden und im kollektiven kunstgeschichtlichen Gedächtnis verankert sind. Zu sehen sind neben ca. 130 Gemälden auch Avantgarde-Zeitschriften und Beispiele seiner Film- und Theaterarbeiten – rund 200 Kunstwerke und Dokumente insgesamt aus bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen. Die Ausstellung ist weitgehend chronologisch aufgebaut – mit Brüchen, analog der stilistisch wechselhaften Phasen in Picabias OEuvre. Die unterschiedlichen Maltechniken fallen sofort ins Auge: Werkgruppen in impressionistischer Malweise, stereotyp dargestellte Spanierinnen, technisch-mechanisch anmutende Abstraktionen oder die von Fotos aus Boulevard-Medien und der Werbung inspirierten «Nudes» sind in Gruppen zusammengefasst. Während die Werke aus Picabias Dada-Jahren bekannt sind, birgt sein Gesamtwerk noch manche Überraschung. Wieder entdeckt wurde eine Reihe von Werken aus der Ausstellung in der Galerie Dalmau, die 1922 in Barcelona stattfand, und zu welcher André Breton das Katalogvorwort geschrieben hatte. Erstmals in Zürich zu sehen sind die drei auf drei Meter grossformatigen «Edtaonisl (ecclésiastique)» von 1913 (The Art Institute of Chicago) und das im selben Jahr entstandene «Udnie» (Musée national d’art moderne, Paris). Diese als Paar kurz nach dem Besuch an der Armory Show 1913 entstandenen Abstraktionen, die 1913 im Pariser Herbstsalon ausgestellt wurden, lassen erahnen, welche Begeisterung und Aufruhr diese Werke vor 100 Jahren auslösten. Erstmals seit bald 70 Jahren sind sie wieder zusammen zu sehen.

 

Text: Kunsthaus Zürich | Foto: Kunsthaus Zürich
Externer Link: Kunsthaus Zürich

 

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