Das Künstlerduo Matthias Wermke (*1978) und Mischa Leinkauf (*1977) kennt sich seit Mitte der 1990er-Jahre und realisiert seit 2004 gemeinsame Projekte, die dem Kontext der Aktionskunst zugerechnet werden können. Statt sich in einen Schutzbereich des Ästhetischen zurückzuziehen, arbeiten sie, teilweise hoch riskant und sich selbst gefährdend, im gesellschaftlichen Raum, in dem Matthias Wermke und Mischa Leinkauf ihre per Foto und Video dokumentierten Aktionen durchführen. Ebenso konsequent wie humorvoll befragen sie die uns so selbstverständlichen Strukturen und Funktionszusammenhänge des öffentlichen Raumes, die bei näherer Betrachtung mindestens ebenso absurd sind wie die Handlungen, die das Künstlerduo in diesen überreglementierten Kontexten durchführt. Könnte nicht alles ganz anders sein und anders erfahren werden, könnten die Kulissen unserer Städte nicht andere Spielräume des Handelns bieten? Matthias Wermke und Mischa Leinkaufs dadaistisch-anarchistische Kunst eröffnet jedenfalls Alternativen, Handlungsräume der Freiheit, indem das Vertraute und Alltägliche umgenutzt wird und sich dadurch neu definiert.
So dokumentiert das Video Zwischenzeit (2008) eine romantisch-abenteuerliche Draisinenfahrt, die Wermke spät in der Nacht auf dem Schienennetz der Berliner S-Bahn unternimmt. Dem Transfer von Massen, den der öffentliche Nahverkehr täglich leistet, wird die selbstbestimmte (Des-)Orientierung eines Individuums entgegengesetzt, das seinen Weg durch das Labyrinth der städtischen Infrastruktur sucht. Grenzgänger (2006) zeigt eine Aktion im Zentrum von Berlin. Ein nackter Mann steigt im Morgengrauen in die Spree, durchschwimmt den Fluss, und steigt auf der anderen Seite wieder ans Ufer. Auf diese Weise wird die repräsentative Schauseite der neuen Hauptstadt historisch aufgeladen durch die Erinnerung an die Fluchtversuche von DDR-Bürgern, die ihrem Staat zu entkommen suchten. Mendiregin Üstünde (2009/2010) beschreibt eine andere Grenzerfahrung. Auf einer zwischen dem europäischen und asiatischen Teil Istanbuls gelegenen Mole haben Wermke und Leinkauf über Nacht eine Hütte errichtet, die dann für die Dauer von drei Tagen bewohnt wurde. Im Selbstexperiment erfahren die beiden Künstler, was es heißt, auf der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident – die letztlich ein Nirgendwo, eine Diaspora ist – zu leben.
Das hat eine inhaltliche Aussagekraft. Den Künstlern geht es nicht um eine individualistische Ich- Erfahrung. Ihre Aktionen sind durchaus ernstgemeinte Eulenspiegeleien, die im Kern als symbolische Handlungen verstanden werden müssen. Sie objektivieren sich in den dokumentierenden Videos, die auf dramaturgische Steigerungsmomente verzichten. In der Regel simulieren sie den emotionslosen Blick von Überwachungskameras und machen den Betrachter damit zum klandestinen Augenzeugen von Handlungen, die oft die Grenzen des gesetzlich Zulässigen überschreiten.
Den bislang spektakulärsten Regelverstoß begingen sie, als sie in der Nacht zum 22. Juli 2014 das Sternbanner auf der New Yorker Brooklyn Bridge gegen zwei handgenähte weiße Fahnen austauschten. Als Hommage an die deutschen Architekten der Brücke und die Auseinandersetzung der Moderne mit dem ikonischen Bildmuster der Fahne gedacht, gewann die Aktion schnell eine politische Aussagekraft, da sie von amerikanischer Seite als Zeichen der Kapitulation und damit als Provokation der Weltmacht gedeutet wurde. Wohl selten zuvor hat eine künstlerische Aktion einen solchen politischen Nachhall gefunden.
In Bonn wird das Duo seine Dia-Installation Überwindungsübungen vorstellen. In ironisch-humorvoller Weise setzt sie sich mit einem „Praxistest“ der besonderen Art auseinander: DDR-Grenzsoldaten hatten nämlich den Auftrag erhalten, zu erproben, wie die Wirksamkeit der Sperranlagen gegen Fluchtversuche zu erhöhen sei. Dabei wurden die teilweise slapstick-artigen Selbstversuche fotografisch festgehalten. Im Jahr 2015 haben Wermke/Leinkauf diese „Überwindungsübungen“ dann an Reststücken der Mauer wieder aufgenommen, gewissermaßen re-inszeniert, wobei sie nun, im gewandelten historischen
Kontext, zu einem Symbol für all die „Überwindungsübungen“ wurden, die Flüchtlinge auszuführen haben, um in die „Festung Europa“ zu gelangen.
Dass Wermke/Leinkauf diese dezidiert politische und damit wenig marktkonforme Kunst überhaupt betreiben können, verdanken die Künstler nicht zuletzt der Hilfe und Unterstützung durch die in Bonn beheimatete Stiftung Kunstfonds, die jährlich aus Mitteln des Bundes und der VG Bild-Kunst Stipendien und Förderungen für bildende Künstlerinnen und Künstler von rund einer Million Euro vergibt. Diese außergewöhnliche Förderleistung soll sich nun im Kunstmuseum Bonn dokumentieren und zwar im Rahmen einer auf fünf Jahre angelegten Ausstellungsreihe, in der Stipendiatinnen und Stipendiaten des Kunstfonds für sechs Wochen einen Ausstellungsraum in der Sammlung des Kunstmuseums bespielen. Den Auftakt bilden Mischa Leinkauf und Matthias Wermke (Stipendiaten 2015), die sicher einen spektakulären Beginn der Kooperation zwischen der Stiftung Kunstfonds und dem Kunstmuseum inszenieren werden.
Text: Kunstmuseum Bonn | Foto: Kunstmuseum Bonn
Externer Link: Kunstmuseum Bonn
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