Wer kennt das nicht? Breitet man das neu erworbene Kleidungsstück daheim auf dem Tisch aus, fällt der Blick auf den eingenähten Waschzettel: Angesichts globaler Vermarktung von Markenartikeln findet sich dort oft ein veritabler Stapel von kleinen Etiketten, der die Angaben zu Material und Pflege in allen möglichen Sprachen aufführt. Die meisten von uns greifen seufzend zur Schere und entsorgen die unschönen Schnipsel in den Mülleimer. Nicht so Emese Benczúr: Die junge ungarische Künstlerin verarbeitet eben diese Reste unserer Modefreuden in „Cut before Use“ mit großem handwerklichem Geschick zu vorhangartigen Werken. Sie sollen, obwohl oder weil sie so schön sind, zum Nachdenken bringen. Über die Bedingungen beispielsweise, unter denen heute in der globalisierten Welt Kleidung hergestellt wird, über damit einhergehende Arbeitsverhältnisse und Umweltbelastungen, über die Eitelkeit der Mode überhaupt.
„Slow Life“ ist eine Ausstellung des Ludwig Museums in Koblenz, das von dessen Partnerhaus, dem Ludwig Museum – Museum für zeitgenössische Kunst Budapest initiiert und konzipiert wurde. Konnte die Ausstellung dort zunächst nur digital gezeigt werden, hat man im (wunderschön direkt am Rhein gelegenen) Deutschherrenhaus in Koblenz Möglichkeiten gefunden, die Schau nun auch „real“ zugänglich zu machen. Die derzeitigen Bedingungen von Covid-19 und die inhaltliche Thematik des Projekts berühren sich auf fast unheimliche Weise: Die ungarischen Künstlerinnen und Künstler verweisen in ihren Werken auf die Problematik einer sich stetig beschleunigenden Konsumgesellschaft in den reichen Ländern der Welt einerseits und den sozialen und ökologischen Folgen in den Produktionsorten in den ärmeren andererseits – die Pandemie mit ihrer massiven Bremswirkung auf Konsum, Verkehr und Kommunikation erzwingt unabhängig vom persönlichen Bewusstsein eine Entschleunigung auch für Zeitgenossen, die sonst gewohnheitsmäßig auf der Überholspur unterwegs sind.
„Slow Life“ umfasst knapp zwanzig medial und ästhetisch höchst unterschiedliche Positionen, die diesen kritischen Ansatz gemeinsam haben und die Sprache des Ästhetischen nutzen, um, wie es der Untertitel formuliert, Möglichkeiten und Perspektiven für „Radikale Praktiken des Alltags“ zu formulieren. Der Bogen wird weit geschlagen: Von der Slow Food Bewegung über die Zweitnutzung von Material – „Up-Cycling“ ist hier das (seinerseits modische) Stichwort – bis hin zu einer freiwilligen radikalen Einfachheit der Lebensführung. Einige der Werke machen aufmerksam auf die absurde Verschwendung, die mit einem wachstums- und profitorientierten System einhergeht, andere gehen über das kritische Denken hinaus und trauen sich, utopische Modelle zukünftiger Lebensformen zu entwickeln. Bemerkenswert ist das allein deshalb, weil Utopie sich bis vor Kurzem noch auf Spinnerei reimte … Langsam wird unversehens sexy: Das Gefühl einer zivilisatorischen Krise führt möglicherweise zu zukünftigen Kurskorrekturen, über deren Ausmaß man freilich heute nur spekulieren kann.
Slow Life. Radikale Praktiken des Alltags
1.11.2020 – 15.03.2021
Ludwig Museum im Deutschherrenhaus
Danziger Freiheit 1
am Deutschen Eck
D-56068 Koblenz
Tel.: +49-261-3040416
Di – Sa 10:30 – 17 Uhr, So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 6 €, erm. 4 €
www.ludwigmuseum.org
Text: Dieter Begemann
Bild: Ludwig Museum im Deutschherrenhaus
Erstveröffentlichung in kunst:art 76