Die Arbeiten muten auf den ersten Blick etwas neurotisch an: Immer das gleiche Format der 238 DIN-A 4 Blätter, auf dem wie besessen kleinteilige Tabellen niedergeschrieben sind. Da-bei wird der Künstler als Straßenbahn- und U-Bahn-Fahrer angekündigt. Da liegt die Vermu-tung eines Outsider-Künstlers, der seine eigenen Schwierigkeiten mit der Welt um ihn her verarbeitet, nicht fern. Die Blätter Benjamin Kunaths erzählen aber eher das Gegenteil. Es geht nicht um das mechanisch Gleichförmige, sondern um die Begegnungen mit Individuen auf den Routen der Bahnen. Aus ihnen entsteht die ganze, eigene und konsistente Welt, die sich in einem System wie dem öffentlichen Nahverkehr zeigt. Nicht von ungefähr war es eine U-Bahn-Linie, namentlich die Linie 1, die im späten West-Berlin eine komplette Gesellschaft in einem Waggon als Musical darstellen konnte.
Und natürlich betreibt Kunath Kunst nicht nebenher als Ausgleich, sondern hat gerade erst als Meisterschüler an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig abgeschlossen. In seiner Installation „Fahrplanaushang 2019“ dient die Bahn auch nur als Bühne für ein Sozio-gramm, in dem sich Personen, ihre Erlebnisse, ihre Zusammenhänge und ihr Sein in der Zeit abbilden. Daraus entstehen in einem eigenen System Einblicke in eine Gesellschaft, die sich frei und überraschend entwickelt. Die Strenge der Systematik der Blätter im büroüblichen Format ist daher auch eher eine augenzwinkernde Ironie von Benjamin Kunath. Denn für die Entscheidung, wer und was hier aufgenommen wird, behält sich der Künstler seine Freiheit vor.
Benjamin Kunath. Train Lines
5.2. – 18.4.2022
Zitadelle. Zentrum für aktuelle Kunst
Am Juliusturm 64
D-13599 Berlin
Tel.: +49-30-3549440
Mo + Mi – So 10 – 17 Uhr, Do 13 – 20 Uhr
Eintritt: 4,50 €, erm. 2,50 €
www.zitadelle-berlin.de
Text: Jan Bykowski
Bild: Zitadelle. Zentrum für aktuelle Kunst
Erstveröffentlichung in kunst:art 84