Baumgarte reiste seit 1950 über Jahrzehnte hinweg durch Afrika und suchte unermüdlich nach Menschen und Landschaften von Kairo bis Kapstadt. Ab 1980 lebte sie an verschiedenen Orten Afrikas für jeweils mehrere Monate. Sie erlebte sowohl den Kolonialismus als auch postkoloniale Gesellschaften, war während der Apartheid in Südafrika, erlebte aber auch die Entstehung der „Regenbogennation” (Bischof Desmond Tutu) nach der Apartheid mit Nelson Mandela als Präsident. Mit diesem Wissen über Ruth Baumgartes Biografie können wir ihre Afrika-Arbeiten noch mehr genießen, denn es ist klar, dass sie die Menschen und Orte malt und zeichnet, die ihr Freude bereiten, und nicht ihre Themen aus anthropologischen Gründen dokumentiert oder visuell seziert.
Während ihrer langjährigen Reisen in Afrika hatte Ruth Baumgarte immer ein besonderes Auge für das Leben der Frauen. Ihre eindringlichen Schilderungen afrikanischer Frauen in allen erdenklichen Situationen – als junge Mädchen, als Mütter, als Arbeiterinnen, als Freundinnen und als Objekte der Begierde – sind bewegend und leicht nachzuvollziehen, denn die Situation der Frauen weltweit ist weitgehend vergleichbar.
Die ausgestellten pulsierenden, lebendigen Leinwände, diese wirbelnden Derwische aus tief gesättigten Farben, die auch räumlich dynamisch aufgebaut sind, ziehen den Blick des Betrachters tief in die Bildebene hinein. Diese beeindruckenden großformatigen Gemälde sind Ruth Baumgartes Spätwerk, das sie in ihren siebziger und achtziger Jahren malte. Alle Bilder sind in Deutschland entstanden, nicht auf ihren Reisen. Während die Zeichnungen Baumgartes anatomisches Verständnis und ihr zeichnerisches Auge demonstrieren, sind die Gemälde rein visionäre Kaleidoskope, die sich von der Tradition des deutschen Expressionismus völlig unterscheiden, aber in ihr verstanden werden können.
Diese Ausstellung von Ruth Baumgartes Afrika-Werken ist kulturell relevant, denn sie bietet eine allzu seltene Gelegenheit, die Welt durch den weiblichen Blick zu sehen, wie wir es auch tun, wenn wir die Werke von Paula Modersohn Becker oder Frida Kahlo genießen.
Die kurz vor Baumgartes Tod im Jahr 2012 gegründete Ruth-Baumgarte-Stiftung verlieh ihre prestigeträchtige Auszeichnung 2022 an Athi-Patra Ruga. Dieser war der erste Schwarze südafrikanische, offen schwule und queere Künstler, der sie erhielt. In der Ausstellung von Ruth Baumgarte ist er mit drei Selbstporträts, zwei großen Wandbehängen in Petit-Point-Stickerei und einer Zeichnung vertreten, in der er eine Maske seines eigenen Gesichts betrachtet und damit das Thema Momento mori aufgreift. Rugas Selbstversunkenheit in seine eigene Körperdarstellung kontrastiert brillant mit Baumgartes psychologisch nuancierten, von Farbwirbeln umgebenen, Darstellungen von Frauen und Männern. Ebenso spannend ist es, den Mann (Ruga) zu sehen, der sich künstlerisch mit Handarbeiten ausdrückt, und die Frau (Baumgarte), die die Farbe heroisch einsetzt, um üppige und kühne künstlerische Aussagen zu machen. Ruth Baumgarte sah die Welt und insbesondere die Frauen und Männer, denen sie auf ihrer jahrzehntelangen Afrika-Odyssee begegnete, genau wie der Kleine Prinz: mit dem Herzen. So zeigt uns diese Ausstellung von Zeichnungen und Gemälden die Menschen und Orte Afrikas genauer, als es vielleicht eine fotografische Ausstellung je könnte.
Die Kunst- und Kulturhistorikerin Dr. Renée Gadsden ist Dozentin für Kunsttheorie und Gender Studies in Wien und hätte gerne eine Professur im deutschsprachigen Raum.
Ruth Baumgarte. Africa: Visions of Light and Color
bis zum 5.3.2023
Albertina
Albertinaplatz 1
A-1010 Wien
Tel.: +43-1-534830
Täglich 10 – 18 Uhr, Mi + Fr 10 – 21 Uhr
Eintritt: 18,90 €, erm. 14,90 €
www.albertina.at
Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Albertina
Erstveröffentlichung in kunst:art 89