Vor ihr waren es Diana Arbus, Joel-Peter Witkin, Michael Schmidt oder Nan Goldin — allesamt mit völlig verschiedenen Intentionen und technischen Mitteln, diversen Stilen, und doch hatten sie eines gemein: Sie porträtierten Individuen abseits hetero-normativer Vorstellungen und Konventionen, ihr Hinterfragen mittels künstlerischer Auseinandersetzungen des binären Systems der Zweigeschlechtlichkeit und der Gender-Systematik wurde publik und erhielt Einzug in die Kunstwelt.
Und so reihen sich auch die Arbeiten der 1957 in Bonn geborenen Annette Frick in jenen Kosmos ein, der sich aus Misfits, Personen der Drag-, Queer- und Performance-Szene offenbart und ihren Ausstellungen Titel wie „Abriss, Trümmerfrauen und internationale Individuen“ oder „Fuck Gender“ verleiht. Kompromisslos, ungeschönt und doch ganz wunderbar intim, schnörkellos wie puristisch verkörpern Fricks Fotografien eine Symbiose aus Inszenierung und Reportage, deren Potenzial sich aus der dualis-tisch veranlagten Fotografie selbst evoziert, die „imstande ist Dokumente hervorzubringen und Bildkunstwerke zu schaffen“, wie Susan Sontag es einst auf den Punkt brachte.
Geschlechterfluidität, auch soziale Außenseiterexistenzen sind beständiges Thema in den Schwarz-Weiß-Arbeiten von Frick und so ist ihr Œuvre ein entscheidender Beitrag zur Erweiterung des Fotografiespektrums. Durch ihre Vorliebe, von der Norm abweichende Modelle abzulichten, erweitert die Wahlberlinerin, die seit den 1990er-Jahren fest integriertes Mitglied der Szene ist, die Fotografie wie einst Diane Arbus um den psychologischen Aspekt, der sich von der reinen Dokumentation abhebt. Denn in dem Augenblick, in dem sich jene Person bei der Selbstinszenierung, Performance oder einfachen Alltagssituation vor der Kamera zeigt und sich in fotografisch gebannte Ewigkeit hüllen lässt, in diesem Moment vermitteln sie Stärke und ein Stück weit Normalität, brechen die Grenzen der Tabuisierung auf. Wenn etwa Gunter sich seiner symbolischen Transformation zur Drag hingibt, mit einer Konzentration, Leidenschaft und Präzision — mit der er etwa die ultra-langen künstlichen Wimpern anklebt, den Lippenstift und Nagellack aufträgt und sich anschließend stolz und voller Selbstzuneigung im Spiegel betrachtet —, dann ist dies authentische Wertschätzung in Bildform.
Und wenn es jemand schafft, diese ganz eigene Welt an Menschen mit all ihren Ritualen, Glanzlichtern und Banalitäten festzuhalten und dem Rest der Welt, dem vieles weiterhin fremd und verborgen scheint, auf eine einfühlsame, gar nicht subversive Art nahezubringen, dann ist dies ein weiterer Meilenstein für Akzeptanz und gelebte Vertrautheit, deren fotografische Zeugnisse nun in der bis dato größten institutionellen Schau Fricks gewürdigt werden. Die Ausstellung ist eine Hommage an die Arbeit der Fotografin und Filmemacherin, aber auch an alle Protagonisten wie etwa Vaginal Davis, Tima die Göttliche, Ovo Maltine, ZsaZsa Hollywoodlawn oder eben den gehörlosen Gunter Trube, eine Ikone der deutschen Drag-Szene, AIDS-Aktivist, Sportler, Dichter, Mensch.
Dr. Denise Susnja lebt und arbeitet im Rheinland.
Annette Frick. Ein Augenblick im Niemandsland
6.5. – 13.8.2023
Marta Herford
Goebenstr. 2–10
D-32052 Herford
Tel.: +49-5221-9944300
Di – So 11 – 18 Uhr, Mi 11 – 20 Uhr
Eintritt: 10 €, erm. 2 – 5,50 €
www.marta-herford.de
Text: Dr. Denise Susnja
Bild: Marta Herford
Erstveröffentlichung in kunst:art 91