Fadenscheinig

1.6. – 10.9.2023 I Museum Haus Konstruktiv

Chiharu Shiota, Eye to Eye, 2023

Chiharu Shiota in Zürcher Haus Konstruktiv

Beeindruckende Installationen aus langen miteinander verwobenen Garnfäden, angepasst an die jeweiligen räumlichen Begebenheiten, schafft die japanische Künstlerin Chiharu Shiota und sorgt damit nicht erst seit ihrer Teilnahme an der Biennale von Venedig im Jahr 2015 weltweit für Aufsehen. Dabei ist nicht nur die komplexe Präsentation spektakulär, sondern auch der tiefsinnige Gedanke, der den Werken zugrunde liegt.

Es macht einen Unterschied, ob Shiota schwarzes, weißes oder rotes Garn verwendet, hier spielt die Symbolik eine wichtige Rolle. Die Verknüpfungen stehen für menschliche Beziehungsgeflechte und dafür, dass alles irgendwie miteinander verbunden ist. Eingearbeitet in das komplexe Werk sind Alltagsgegenstände, in der Ausstellung „Eye to Eye“ im Zürcher Haus Konstruktiv sind es unzählige getragene Brillen, die die Künstlerin gesammelt hat. Anders als in früheren Arbeiten hängen die blutroten Fäden der raumfüllenden Installation von der Decke, ohne verknotet zu sein.

Durch die Gegenstände, das können Kleidungsstücke sein, aber auch Möbel, Musikinstrumente oder Bücher, sind Menschen präsent, obwohl sie nicht (mehr) anwesend sind. Die Künstlerin hinterfragt das menschliche Dasein und philosophiert über das Thema, was bleibt, wenn Beziehungen zerbrechen oder ein Mensch stirbt. Eine wichtige Rolle spielt die Erinnerung, die verblasst, je länger jemand nicht mehr da ist. Dabei bleibt die Künstlerin stets dezent und unaufdringlich und überlässt es dem Betrachter, welche Schlüsse er aus den Werken zieht. 

In der Installation „Out of my Body“ stellt Shiota Überlegungen an, was von ihr selber einmal bleiben wird. Für diese Arbeit verwendete die Künstlerin haltbare Materialien: rot gefärbte Teile aus Rinds- und Ziegenleder, die versetzt von der Decke hängen und in Kombination mit Abgüssen ihrer Füße aus Bronze ein stimmiges Ganzes ergeben.

Objekte, Glaskästen, Gemälde und Zeichnungen runden die Ausstellung ab und beleuchten Shiotas vielseitiges Œuvre. Unter den Exponaten findet sich auch die Arbeit „State of Being (Dress)“, in der das in ihrem Werk häufig wiederkehrende Motiv des Kleides vorkommt. Das Kleid als Sinnbild der zweiten Haut, an der Schnittstelle vom Inneren zum Äußeren, vom Menschen zum Universum, vom Leben zum Tod.

Die 1972 in Osaka geborene Installationskünstlerin hatte ursprünglich Malerei in Japan studiert, bevor sie in den 1990er-Jahren ihren Abschluss in Berlin bei Marina Abramović absolvierte, die sie ermutigte, ihren künstlerischen Ausdruck auf unterschiedlichste Weise zu erweitern. 1994 übergoss sie sich in der kompromisslosen Performance „Becoming Painting“ mit Emaillefarbe als Zeichen einer Neuausrichtung ihres künstlerischen Schaffens.

Chiharu Shiota. Eye to Eye
1.6. – 10.9.2023
Museum Haus Konstruktiv
Selnaustr. 25
CH-8001 Zürich
Tel.: +41-44-2177080 
Di – So 11 – 17 Uhr, Mi 11 – 20 Uhr
Eintritt: 18 CHF, erm. 12 CHF
www.hauskonstruktiv.ch

Text: Karin Gerwens
Bild: Museum Haus Konstruktiv
Erstveröffentlichung in kunst:art 92