Gibt es das wirklich, was Ilkka Halso da fotografiert hat? Die riesigen Fotografien des Finnen sind von fast beängstigender Schärfe und zeigen moosüberwachsene Felsen in sattem Grün, schüttere Bäumchen auf einer kleinen Insel im See oder endlose Reihen von Nadelbäumen, die dichtgedrängt eine Landstraße flankieren. Was man halt in Finnland so erwartet, oder? Nicht ganz, denn die Findlinge befinden sich auf Paletten, mit Spanngurten transportfertig verzurrt, der weite Himmel über dem Inselchen erweist sich als dioramenartig ausgespannter Hintergrund und über der fichtenbestandenen Straße sieht man das Raster einer typischen Industriehallendecke, regelmäßig bestirnt von Leuchtstoffröhren … Eine befremdlich kalte Welt, eine Welt als durchgängig künstliche Simulation. Filmfreunde dürfen hier natürlich an „The Truman Show“ denken: Auch schon 25 Jahre her und ach, wie vorausschauend …
Der Schafhof, das Europäische Kunstforum Oberbayern, hat sich die künstliche Welt vorgenommen in einer Themenschau, passgenau zum kürzlich (je nach Gestimmtheit) triumphierend oder ängstlich ausgerufenen Anthropozän, also der vom Menschen dominant bestimmten Weltepoche. „Artificial Genesis“ versammelt fünf Künstler und Künstlerduos, die sich in diversen Techniken von der Lithografie über die Fotografie bis zur computergestützten Animation mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur beschäftigen. Der geochronologische (und insofern wertneutrale) Begriff hat sich im kulturellen Kontext erfolgreich etabliert und macht hinfort die Vorstellung einer irgendwie unschuldig reinen, sozusagen naturbelassenen Natur hinfällig – Natur ist von nun an nur noch als menschlich überformte zu denken. Und da sind im Grunde die (vorläufig noch am Computer bearbeiteten …) Konzepte von Halso schlüssig: Die Bestandteile einer einstmals selbstständig existierenden Natur harren als Naturbausteine in Hochregalen ihrer Verwendung. Und wer weiß, vielleicht eröffnet sich auf diese Weise so mancher vom Aussterben bedrohten Art noch ein Refugium? Zynismus oder Utopismus, das ist die Frage. Halso jedenfalls sieht seine Zukünfte als denkbar, aber nicht unbedingt erstrebenswert …
Die Druckgrafiken von Barbara Herold und Florian Huth (Deutschland) gehen der Frage nach, wie digital konstruierte Pflanzen aussehen könnten, deren genetische Codes neben den herkömmlich pflanzlichen Elementen auch solche von menschlicher Herkunft einschließen, Zahlencodes etwa oder Bildzeichen. Ein „Digitales Herbarium“, nennen die beiden ihr Projekt. Tamás Waliczky (Ungarn/Hongkong) ist international renommierter Medienkünstler, die computergestützte Animation sein Schwerpunkt. Erich Berger (Österreich/ Finnland) bewegt sich so gewandt an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Naturwissenschaft, dass er unlängst am Teilchenbeschleuniger CERN ein Stipendium erhielt. Jeremy Wood (USA) schließlich betreibt in seiner zarten zeichnerischen Kartografie eine ziemlich skeptische Erkundung des Raums: keine Landschaft ohne den Menschen.
Dieter Begemann ist Künstler und Kunstwissenschaftler, der Architektur, Design, Autos und Italien liebt!
Artificial Genesis
30.9. – 3.12.2023
Schafhof. Europäisches Kunstforum Oberbayern
Am Schafhof 1
D-85354 Freising
Tel.: +49-8161-146231
Di – Sa 14 – 19 Uhr, So 10 – 19 Uhr
www.schafhof-kuenstlerhaus.de
Text: Dieter Begemann
Bild: SchafFreihof
Erstveröffentlichung in kunst:art 93