
Zwischen Skylla und Charybdis
Im besten Fall sind Museen Bildungseinrichtungen, die mit einem gut durchdachten Ausstellungsprogramm wertvolle Einblicke in ihr Fachgebiet geben können. Die Schau „Glanz und Elend: Neue Sachlichkeit in Deutschland“ im Leopold Museum bringt über 150 Kunstwerke zum ersten Mal in Österreich zusammen, um diese dynamische und unruhige Ära zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und Hitlers Machtergreifung 1933 zu beleuchten. Nach den Ausstellungen österreichischer Provenienz, „Menschheitsdämmerung“ (2021) und „Hagenbund. Von der gemäßigten zur radikalen Moderne“ (2022/23), ist diese Schau nicht nur eine weitere Erkundung dieser Kunstperiode, sondern auch die perfekte Fortsetzung der Anfang 2024 im Leopold Museum gezeigten Ausstellungen zur expressionistischen Kunst Max Oppenheimers und Gabriele Münters. Es scheint, dass der Direktor Hans-Peter Wipplinger und sein Team entschlossen sind, mit ihrem Ausstellungsprogramm noch stärker und stärker zu werden.
Der Begriff „Neue Sachlichkeit“ wurde von Gustav Friedrich Hartlaub für die von ihm organisierte Ausstellung „Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ 1925 in der Städtischen Kunsthalle Mannheim geprägt. Die Künstler der Neuen Sachlichkeit waren auf der Suche nach einem neuen visuellen Vokabular, weg von der Naivität und dem Enthusiasmus des Expressionismus, das zu einer Gesellschaft passte, die nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und dem noch nie dagewesenen Ausmaß an Massensterben und Zerstörung des ersten Weltkriegs in Trümmern lag.
Angewidert von der Korruption in der Weimarer Republik, aber auch fasziniert von den neuen Freiheiten, teilte diese vielfältige Gruppe von Künstlern nicht unbedingt einen Stil, sondern vielmehr das Engagement, die objektive Wahrheit hinter den zeitgenössischen Missständen aufzudecken. Mit Karikatur, Satire, Neoklassizismus und sogar Anklängen an den Surrealismus porträtierten Künstler wie Max Beckmann, George Grosz und Otto Dix Staatsoberhäupter, Bürokraten, Bohemiens, Arbeiter und sich selbst, unbeirrt und mitschuldig an der Gesellschaft, in der sie lebten. Die Künstler hoben die sozialen und politischen Wirren des Lebens hervor, die durch Kriegsprofiteure, Bettler und Prostituierte betont wurden. Sie untersuchten den Aufstieg der Metropole Berlin mit ihren Freiheiten und ihrer sexuellen Befreiung, stellten aber auch die zunehmende Entfremdung von der Natur und dem Landleben fest.
Hartlaub machte zwei Hauptströmungen der Neuen Sachlichkeit aus: die „Veristen“ auf der linken Seite, die gesellschaftskritisch waren und eine Kunst schufen, die er den „neuen Naturalismus“ nannte. Die traditionelleren klassizistischen Tendenzen auf der rechten Seite bezeichnete Hartlaub als den „neuen Klassizismus“. Beide Tendenzen stellten Realismus dar, aber es war kein traditioneller Mimetismus. Vielmehr präsentierten die Künstler der Neuen Sachlichkeit einen verzerrten und düsteren Realismus dar, der den moralischen Verfall, den sie in der deutschen Gesellschaft beobachteten, aufzeigen sollte. Die Ausstellung zeigt auch weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler vor sowie Frauen, die die Bewegung als eigenständige Künstlerinnen und nicht als Musen oder Modelle geprägt haben, wie Grethe Jürgens, Lotte Laserstein und Gerta Overbeck.
Die Ausstellung „Glanz und Elend“ ist visuell höchst spannend, könnte aber auch für kultur- und sozialgeschichtlich interessierte Betrachter mit starken Emotionen verbunden sein, da es möglich ist, in den ausgestellten Kunstwerken tiefe Parallelen zu unserem heutigen Leben und unserer Gesellschaft zu erkennen.
Die ehemalige Radiomoderatorin Dr. Renée Gadsden wird in der 40. Jubiläumssendung der österreichischen Ö1-Sendung „Diagonal“ und im Audioguide für die kommende Hannah-Höch-Ausstellung im Wiener Museum Belvedere zu hören sein.
Glanz und Elend. Neue Sachlichkeit in Deutschland
24.5. – 29.9.2024
Leopold Museum
MuseumsQuartier
Museumsplatz 1
A-1070 Wien
Tel.: +43-1-525701555
Mo + Mi – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 17 €, erm. 14 €
www.leopoldmuseum.org
Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Leopold Museum
Erstveröffentlichung in kunst:art 97