Textile Augentäuschung
Wissen Sie, was eine Aumônière ist? Kein Problem, Aufklärung schafft ein Besuch in der Abegg Stiftung,
unweit des Örtchens Riggisberg in den Berner Voralpen. Das Museum für Textilien und angewandte
Kunst zeigt im prachtvollen ehemaligen Wohnhaus der Stifter (im Stile des piemontesischen Barock) und
dem angrenzenden modernen Ausstellungstrakt Kostbarkeiten aus textilen Materialien, Gewänder,
Tapisserien und mehr. Und eben die besagte Aumônière, einen aufwendig verzierten Almosenbeutel aus
dem 14. Jahrhundert, den die fromme Dame auf dem Weg zur Kirche am Gürtel mitführte.
Die aktuelle Sonderausstellung aber hat sich textile Augentäuschungen zum Thema gesetzt. Es geht
also um textile Werke, die die Möglichkeiten der jeweiligen Technik einsetzen, um eine ganz andere
Technik zu imitieren: Stickereien etwa, die Gewebtes nachahmen. Oder Bildteppiche, bei denen der reale
Raum mittels illusionistischer Perspektive übergeht in einen imaginären Bildraum. Die handwerkliche
Meisterschaft fängt den Blick und leitet sanft über zur Kontemplation im Marienbild aus dem 16.
Jahrhundert. Eminente technische Bravour verrät eine in der Touraine um 1500 entstandenen Tapisserie,
auf der u.a. eine Tapisserie dargestellt ist. Die Form einer „realen“ Blume im Vordergrund der Szene
taucht – Bild im Bild – auf dem abgebildeten Gewebe noch einmal auf: statt in simpler Frontalität nun
verzerrt durch den Faltenwurf, der den Muster-Rapport in der Wahrnehmung fragmentiert.
Augentäuschung. Textile Effekte und ihre Imitation
bis zum 10.11.2024
Abegg-Stiftung
Werner Abeggstr. 67
CH-3132 Riggisberg
Tel.: +41-31-8081201
Täglich 14 – 17:30 Uhr
Eintritt: 10 CHF, erm. 5 CHF
www.abegg-stiftung.ch
Text: Dieter Begemann
Bild: Abegg-Stiftung
Erstveröffentlichung in kunst:art 98