Neudeutungen bekannter Kunstwerke sind das eine, dass sich aber ein Werk, und dann noch von der Hand eines der ganz Großen der Kunstgeschichte, seinerseits radikal verändert, das ist etwas anderes. In Dresden wurde Jan Vermeers frühes Hauptwerk, das „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“, seit 2017, nach einer längeren Vorbereitungsphase mit umfangreichen technischen Untersuchungen, einer Restaurierung unterzogen, deren Abschluss nun in Sicht ist. Das Gemälde – es wurde 1742 in Paris für die Dresdner Sammlung des Kurfürsten Friedrich August II. erworben – zeigt im Profil nach links eine junge Frau, die vor dem geöffneten Fenster einen scheinbar in der einströmenden Luft wehenden Brief studiert. Dessen Inhalt bleibt freilich verborgen, ein Raum für Spekulationen und Mutmaßungen, so unbestimmt und offen wie die leere helle Wand im Hintergrund.
Genau diese Wand aber, so stellte sich heraus, ist das Resultat späterer Übermalungen und keineswegs als Korrektur seitens Vermeers entstanden. Jetzt wird der ursprüngliche Zustand wieder sichtbar und der zeigt zu Häupten der Leserin ein Gemälde im Gemälde, auf dem ein Cupido in strahlender Nacktheit prangt! Das erlaubt einigen Rückschluss auf die Gefühlslage der Leserin. Die Ausstellung im Semperbau am Zwinger dokumentiert die Restaurierungsgeschichte und bringt das neue alte Bild zusammen mit etwa fünfzig weiteren Werken der holländischen Genremalerei der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Johannes Vermeer. Vom Innehalten
10.9.2021 – 2.1.2022
Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister
Zwinger
Theaterplatz 1
D-01067 Dresden
Tel.: +49-351-49142000
Di – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 12 €, erm. 9 €
gemaeldegalerie.skd.museum
Text: Dieter Begemann
Bild: Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister
Erstveröffentlichung in kunst:art 81