Der Herr der Strichgewitter

29.10.2021 – 30.1.2022 | Albertina

Der anstehende 100. Geburtstag ist für die Wiener Albertina Anlass, einen Künstler mit einer großen Retrospektive zu feiern, der persönlich und von seinem Schaffen her zu den Leisen und Feinen gehörte: Paul Flora, 1922 in Glurns im Vinschgau geboren und 2009 in Innsbruck gestorben, war als souveräner Zeichner über Jahrzehnte kontinuierlich mit seinem Werk in der Öffentlichkeit präsent. Sein Forum war nicht das Museum oder die Galerie, sondern die Reproduktion der Blätter in auflagenstarken Zeitschriften und Zeitungen – Die Zeit oder die Times, Observer oder Dagens Nyheter – und die enge Zusammenarbeit als Buchgestalter über Jahrzehnte hinweg mit dem Zürcher Diogenes-Verlag.

Ein großes, offenbar vielgeschossiges Gebäude mit reichem Fassadenschmuck, von dem wir aber nur die obersten Etagen sehen, ganz oben auf dem Dach ein kleines Haus, formgeschnittene Bäume in Kübeln davor – und gegenüber auf der Terrasse ein riesenhafter Dinosaurier. Der regenverhangene Giudecca-Kanal in Venedig, kaum ist am gegenüberliegenden Ufer Palladios Redentore-Kirche zu erkennen und zwergenhaft im Vordergrund, den Leib im roten Mäntelchen, ein Pinscher: „Ein vornehmer Hund“. Die Beispiele werfen Schlaglichter auf Paul Floras Kunst: Ein skurriler Humor trug sie, das empfindliche Beobachten des Absurden und Bizarren, eine übersteigernde Erfindungskraft und ein wacher Wortwitz. Wenn je ein bildender Künstler ein Sensorium für Sprache hatte, dann war es der leidenschaftlich literaturaffine Flora.

Das Handwerkszeug, das für ihn wie geschaffen schien, war neben dem harten Bleistift vor allem die spitze Tuschfeder, deren feinen, delikaten schwarzen Strich er in dichten Lagen verwendete. Aus unzähligen nervösen Linien mit abgestufter Dichte wachsen Schraffuren hervor, parallel und in der Kreuzlage. Höchst subtile Grauwertabschattungen und die, wie er es selbst einmal nannte, „Strichgewitter“ waren Floras Markenzeichen. Die aus diesen grafischen Mitteln zwangsläufig sich ergebende Bildstimmung – oder war es umgekehrt, ließ eine persönliche Grundgestimmtheit den Zeichner erst zu diesen Mitteln greifen? – ist die der Melancholie. Floras Wetter sozusagen ist der Regen. Die sparsam und nur ganz punktuell eingesetzten farbigen Lasuren heben diese trübe Stimmung nicht auf, sie vertiefen sie noch im Kontrast: das Mäntelchen des einsamen Pinschers. Die höchste Qualität erreicht Floras Kunst dadurch, dass all die leise Trauer immer gebrochen ist mit einem Lächeln, ja einem Lachen der (heimlichen) einverständigen Überraschung: Halten wir nicht alle auf unseren Balkons Dinosaurier?

Die Ausstellung in der Albertina umspannt mit Werken aus dem Bestand des Hauses und Leihgaben – hier sind besonders solche aus der Familie Paul Floras zu erwähnen – die ganze Bandbreite des Schaffens des Tiroler Künstlers, von den frühen Karikaturen über die späteren Zeichnungen und Buchillustrationen bis zu freien Arbeiten. Hierunter vor allem die Szenen aus einem (natürlich!) verregneten und nachtdunklem Venedig: grandios!

Dieter Begemann lebt und arbeitet als freier Autor in Norddeutschland.

 

 

Paul Flora. Zeichnungen
29.10.2021 – 30.1.2022
Albertina
Albertinaplatz 1
A-1010 Wien
Tel.: +43-1-534830
Täglich 10 – 18 Uhr, Mi + Fr 10 – 21 Uhr
Eintritt: 16,90 €, erm. 11,90 – 12,90 €
www.albertina.at

Text: Dieter Begemann
Bild: Albertina
Erstveröffentlichung in kunst:art 82

Über Dieter Begemann 271 Artikel
Begemanns Blog: Sternschnuppen An dieser Stelle soll es um ästhetische Sternschnuppen gehen und, wie es die Schnuppen so machen, sollen sie hin und her zischen auf manchmal verblüffenden Kursen – kreuz und quer! Ich konnte (und musste zum Glück mich auch nie) entscheiden zwischen praktisch-bildkünstlerischen und theoretischen Interessen: Ich liebe Malerei und Bildhauerei, begeistere mich für Literatur, bin ein Liebhaber von Baukunst und Design –aber meine absolute Leidenschaft gehört der Gestaltung von Gärten und Autos. Und, eh ich’s vergesse: natürlich dem Film!!