Im Schauwerk in Sindelfingen hat die in Osaka geborene Künstlerin Chiharu Shiota soeben eine wunderbare Installation mit dem Titel „Silent Word“ vollendet, die als ein ultimatives Verständnis des künstlerischen Tuns der inzwischen 50-jährigen Japanerin gelten könnte. Im Englischen bedeutet der Ausdruck silent letter, dass der Buchstabe nicht artikuliert wird, wie etwa das k in „knew“. So werden „new“ und „knew“ zwar auf gleiche Art ausgesprochen, sie haben aber nicht die gleiche Bedeutung. Schon deswegen ist Englisch eine Sprache, in der es sehr viel zu memorieren gibt, wobei der Sinn eines gehörten Wortes zuweilen nur aus dem Kontext erschließbar ist.
Diese Bedeutung, die sich im Unausgesprochenen verbirgt, charakterisiert die subtilen Arbeiten von Chiharu Shiota und findet hier mit Silent Word ihren sprechenden Titel. Spätestens seit ihrer Teilnahme an der 56. Biennale in Venedig 2015, wo sie mit einer Schiffsinstallation aus blutroten Fäden und Schlüsseln weltberühmt wurde, weiß man, dass Shiotas Arbeiten ebenso vielschichtig wie verschlossen sind. Eine einzige definitive Erklärung ist kaum möglich.
In Pittsburgh hatte die einstige Schülerin von Marina Abramović 2013 beispielsweise die verwunschene Eröffnungsinstallation im Museum für moderne Kunst in der Mattress Factory geschaffen, versponnene Räume, in denen Bett und Bücher eingewebt waren. Man traute sich kaum, die Räume zu betreten, so gefüllt schienen sie mit den verflossenen Lebensträumen von Menschen der vergangenen Jahrhunderte. Im Sinclair-Haus in Bad Homburg stand 2019 ein verbranntes Klavier im Zentrum.
Auch in Sindelfingen hat sie eine wunderbare Installation kreiert: ein leerer Stuhl, davor ein Sekretär und ein Geflecht mit darin eingewebten weißen Zahlen, die von oben auf die wie glatte Fläche zu fallen scheinen. Sie wirken zufällig, es gibt keine Zahlenkombinationen, derer Zusammenspiel einen möglicherweise endgültig klärenden Sinn von Shiotas Installation erläutern würden.
Die Absage der Künstlerin an jegliche Deutung ist unwiderruflich: „Meine Erfahrungen und meine Existenz können nicht mit den Worten erläutert werden. Meine wahren Worte sind tonlos. Das ist der Grund, warum ich Kunst mache.“ Besser als jede andere Erklärung beschreibt der Ausdruck Silent Word die Unmöglichkeit einer direkten Erklärbarkeit auf rein „phonetischer“ Ebene.
Silent Words liegen daher in Sindelfingen schön aufgestapelt auf Regalen, während die hellen Zahlen, die in dem feinmaschigen Netz aus schwarzer Wolle oberhalb des Tisches eingewebt sind, außer sich selbst keine weitere Bedeutung haben. In der Berliner Nikolai-Kirche, wo die erste Fassung dieser Arbeit gezeigt wurde, wurden Bibelseiten in verschiedenen Sprachen eingewebt, was sich aus dem Kontext erklärt.
Die neueste Arbeit bestätigt erneut eindrücklich, dass Chiharu Shiota keine andere Erklärung als die des reinen Kunstwillens beim Schaffen ihrer Kunstwerke geltend machen möchte. Und sie findet immer die passenden Worte, um ihre Vorhaben zu deuten, aber nie restlos zu erklären.
Chiharu Shiota. Silent Word
23.10.2022 – 8.10.2023
Schauwerk Sindelfingen
Eschenbrünnlestr. 15
D-71065 Sindelfingen
Tel.: +49-7031-9324900
Mi – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 8 €, erm. 5 €
www.schauwerk-sindelfingen.de
Text: Dr. Milan Chlumsky
Bild: Schauwerk Sindelfingen
Erstveröffentlichung in kunst:art 88