Rolle, aber die enorme Überhöhung eines sich tagtäglich wiederholenden Naturvorgangs kommt aus den Tiefen der menschlichen Kulturgeschichte. Sie lässt schlagartig den Projektor im Kopfkino auf Hochtouren laufen, wir sehen, was wir wünschen. Kein Liebesfilm, keine Kreuzfahrtwerbung, keine Autoreklame kann es sich leisten, auf Sonnenuntergänge zu verzichten. Auch in den bildenden Künsten geht die Sonne mit Leidenschaft unter: millionenfache Varianten, in den Bergen, am Meer, in der Wüste, notfalls auch am Rande des (nun offenbar doch nicht so) ewigen Eises. Diese Inflation hat freilich in den ästhetisch gebildeten Ständen den Kurs des bildnerisch dargestellten Naturspektakels deutlich sinken lassen, das allzu beliebte Motiv ist als kitschig in Verruf geraten. Aber wenn live die Sonne sich zum Untergehen anschickt, siehe oben. Man kommt aus der Nummer kaum raus.
Mit der gebotenen Nüchternheit nimmt sich nun die Bremer Kunsthalle des so hymnisch besungenen wie gallig geschmähten Themas an. „Sunset“ ist ein Längsschnitt durch die Kunstgeschichte, einsetzend mit dem ersten Boom des Sonnenuntergangs in der Romantik (das eine ist ohne das andere nicht zu haben) über Impressionismus und Moderne bis heute. Etwa achtzig Gemälde (aus der eigenen Sammlung wie auch schöne Leihgaben), Zeichnungen, Druckgrafiken, Fotografien und Videos leuchten dem sinkenden Tagesgestirn heim. Auch die Physik der mit dem Sonnenuntergang verbundenen Phänomene wird nicht außer Acht gelassen.
Die Spannweite der Ausstellung ist, dem Thema angemessen, hochdramatisch: Philip Otto Runge zeigt in seinem „Abend“ (1805) uns Menschen als innig mit dem Naturkreislauf verbundene Wesen, eine gestirnte Aurora oder Maria spannt schützend die Arme aus, wir können ruhig dem neuen Tag entgegenschlummern. Claude Monet lässt im Sonnenuntergang („Parlament“, 1904) selbst die moderne Großstadt romantisch erglühen, wohingegen bei Ed Ruscha der Sonnenuntergang, wenn man so sagen darf, auf den Hund gekommen ist: „On the Sunset Strip“ (1966) ist ein Fotobuch, das, aus dem Autofenster heraus gesehen, alle Gebäude entlang der berühmten Straße in Hollywood festhält, je nach Fahrtrichtung regulär oder verkehrt herum zu betrachten, ein Leporello der architektonischen Banalitäten. Man könnte mit Norma Desmond, der alternden Diva aus Billy Wilders „Sunset Boulevard“ in Verkennung aller Tatsachen, hier ausrufen: „Mr. De Mille, I’m ready for my close-up!“ Ist des DDR-Malers Mattheuer „Sommerabend“ (1985) mit weit offenem Horizont ironisch gemeint? Und Fotograf Jörg Sasse führt uns unerbittlich ins Innerste des Kurorts „Bad Salzuflen“, wo über einer ausgemacht scheußlichen Häkeldecke der Sonnenuntergang (mit Palme) nur noch als Fototapete klebt …
Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne
26.11.2022 – 2.4.2023
Kunsthalle Bremen
Am Wall 207
D-28195 Bremen
Tel.: +49-421-329080
Di 10 – 21 Uhr, Mi – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 15 €, erm. 7 €
www.kunsthalle-bremen.de
Text: Dieter Begemann
Bild: Kunsthalle Bremen
Erstveröffentlichung in kunst:art 88