Drastische Reflexionen des moralischen Verfalls

18.11.2022 – 26.2.2023 | Staatsgalerie Stuttgart

Dargestellt ist eine jener typischen Straßenszenen in den Halbweltvierteln Berlins. Das Bild „Die Straße“, 1915, bleibt trotz futuristischer Ansätze weitgehend im Bereich illustrativer Gegenstandsnähe und elementarer Vereinfachung. Doch die groteske Verpuppung der Figuren und die grelle Farbgebung in Giftgrün und Rot steigern die nächtlich-schwüle, lüstern-unheimliche Atmosphäre. Unsere Vorstellung vom glanzvollen Leben und tristen Leiden im Berlin der wilden Zwanziger hat ein Maler besonders geprägt: George Grosz (1893–1959). In seinem Werk, das ohne die Revolution 1918 und die Wirren der Weimarer Republik nicht denkbar wäre, inszeniert er den sittlichen Zerfall der deutschen Gesellschaft in aller Schonungslosigkeit. Seine in Berlin entstandenen Arbeiten sind ein Spiegel der politischen und gesellschaftlichen Fragen der Zeit.

Grosz wollte mit seinen Arbeiten an das gesellschaftliche Gewissen appellieren und einen Blick hinter die Fassade werfen. Sein stilistisches Mittel: Grauen gepaart mit Humor. So machte er seine Kunst zur Waffe und lüftete mit spitzer Linie den klischeebesetzten glitzernden Vorhang der Goldenen Zwanziger. Das pulsierende Berlin der 20er-Jahre – George Grosz fand die Bildsprache, um die Triebkräfte einer entfesselten Metropole anschaulich zu machen. Mit den Mitteln der Groteske seziert er die wüste Realität seiner Zeit – und hat zugleich eine unbändige Freude am Leben. Seine zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Emigration 1933 entstandenen Werke sind drastische Reflexionen des moralischen Verfalls, der politischen Skrupellosigkeit und der Konsequenzen von Krieg, Gier und Elend. 1926 deutet er die angeblich goldenen Zwanzigerjahre in seinem großformatigen Gemälde als „Sonnenfinsternis“. Das Volk steht in diesem unheimlichen Ambiente als Esel mit Scheuklappen auf dem Tisch und frisst geduldig die Erlasse des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und seiner kopflosen Pappkameraden.

George Grosz, der den Geburtsnamen Georg Ehrenfried Groß trug, war auch ein großartiger Grafiker, der in seinen Blättern besonders an Krieg, Politik und sozialer Ungerechtigkeit scharf Kritik übte, wie man es nun in der Stuttgarter Ausstellung „Glitzer und Gift der Zwanzigerjahre“ erleben kann. Diese Tendenz brachte ihm im Fall seiner 1922/23 herausgegebenen Sammelmappe „Ecce Homo“ mit Blättern wie „Schönheit, dich will ich preisen“ und „Der Mädchenhändler“ die Konfiszierung mehrerer Blätter daraus und einen Prozess wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ein. Infolge der ebenfalls in Stuttgart gezeigten Arbeit „Christus mit der Gasmaske“ stand Grosz schließlich wegen Gotteslästerung vor Gericht. Grosz‘ satirische Angriffe auf die öffentliche Moral und die anschließenden Gerichtsprozesse sind bis heute juristische Lehrstücke zum nach wie vor relevanten Thema Kunstfreiheit.

Die ursprünglich von Sabine Rewald für das Metropolitan Museum in New York konzipierte Ausstellung bietet mit rund hundert Werken einen Querschnitt durch Grosz‘ facettenreiches malerisches und zeichnerisches Werk, dessen Aktualität sich in unseren Tagen einmal mehr als ungebrochen erweist.

Stefan Simon hat Kunstgeschichte und klassische Archäologie studiert und arbeitet als freier Autor und Kurator.

Glitzer und Gift der Zwanzigerjahre. George Grosz in Berlin
18.11.2022 – 26.2.2023
Staatsgalerie Stuttgart
Konrad-Adenauer-Str. 30 – 32
D-70173 Stuttgart
Tel.: +49-711-470400
Di – So 10 – 17 Uhr, Do 10 – 20 Uhr
www.staatsgalerie.de

Text: Stefan Simon
Bild: Staatsgalerie Stuttgart
Erstveröffentlichung in kunst:art 88