Der Wilde Mann tauchte als Mischwesen als halb Mensch, halb Tier, Tier oder Pflanze auf Festen wie Fastnacht, Karneval oder Karfreitag auf und existierte seit dem frühen Mittelalter im germanischen und slawischen Volksglauben bis zum Beginn der Neuzeit. Es war ein Wesen, das laut Brauchtum in und mit der Natur lebte.
Der französische Fotograf Charles Fréger gehört zu den wichtigsten Vertretern der jungen europäischen Fotografie. 2010 und 2011 begab er sich auf eine Reise quer durch Europa. Er wollte herausfinden, ob es die Figur des Wilden Mannes noch in der heutigen lokalen Volkstradition gibt. Das Ergebnis ist erstaunlich und in Jena zu sehen.
Das Faszinierende an der Gestalt des Wilden Mannes ist, dass man nie weiß, wer wirklich in dem Kostüm steckt. Ihn also rein auf den Mann beschränken zu wollen, scheitert somit bereits im Ansatz. Die Maskierung steht im Mittelpunkt der Arbeiten von Fréger. Oftmals kommt der Wilde Mann als eine Art Bär, Wolf oder Hirsch daher, das Gesicht ist hinter einer Maske verborgen oder so stark geschminkt, dass die Schminke den animalischen Charakter noch verstärkt. Eine andere Variation der Verkleidung ist die von fremdartigen Wesen, Strohmänner oder Teufel. In ihrer ursprünglichen Bestimmung jagten diese Gestalten den Menschen oftmals Angst und Schrecken ein. Bis heute ist der Wilde Mann auch ein beliebtes Thema in Krimis. Denn die Kostümierung ist schon die halbe Miete für die Spannung bei den Zuschauenden.
Charles Fréger fotografierte die zum Teil düsteren Gesellen nicht nur auf Festen oder im Karneval, sondern inszenierte sie auch in einer natürlichen Umgebung. Dabei erlaubte er sich künstlerische Freiheiten und zeigt dem Betrachter seine Sichtweise auf das vom Menschen geschaffene Naturwesen. In manchen Arbeiten möchte man fast meinen, dass darin die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit der Natur mitschwingt.
Die Serie „Wilder Mann“ ist für den Künstler nicht abgeschlossen, vielmehr entdeckt Fréger neue Facetten an der Figur, die seine Kreativität beflügeln. Die für ihn erschlossenen Regionen verbleiben im Portfolio seines Schaffens. Die Arbeit von Fréger geht allerdings über das reine Fotografieren hinaus. Ihn interessieren die Legenden und Sagen über den Wilden Mann in den jeweiligen Gebieten, die sich ihm nach und nach erschließen, weil er auf die Menschen, die dort leben, eingeht und ihnen zuhört. Somit hat sich die Begeisterung für den Wilden Mann bei dem Fotografen vertieft. Gleichzeitg wird er zum Bewahrer der alten Tradition. Seine Neugier hat ihn um die ganze Welt geführt und an seinen Entdeckungen lässt er die Betrachtenden teilnehmen. Die hohe Ästhetik der Fotos unterstreicht zugleich den Respekt und die Achtung, die er den alten Bräuchen, die heute noch gepflegt werden, entgegenbringt. Egal wie gruselig die Masken auf dem ein oder anderen Foto sein mögen, jede dieser Arbeiten ist auf ihre Weise schön.
Im Leben verschwinden Dinge, wenn sie nicht gepflegt werden, und genau das tut der Künstler mit seinen Arbeiten.
Nadja Naumann lebt und arbeitet als freie Journalistin in Mitteldeutschland.
Charles Fréger. Wilder Mann
18.3. – 11.6.2023
Kunstsammlung Jena
Markt 7
D-07743 Jena
Tel.: +49-3641-498261
Di – So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 5 €, erm. 3 €
www.kunstsammlung-jena.de
Text: Nadja Naumann
Bild: Kunstsammlung Jena
Erstveröffentlichung in kunst:art 90