Paula Modersohn-Beckers Leben war geprägt von Kontrasten. Einerseits lebte sie in der ländlichen Idylle der Worpsweder Künstlerkolonie und andererseits zog es sie immer wieder in die pulsierende Metropole Paris, auf der Suche nach der eigenen Identität als Frau und Malerin. Sie wehrte sich gegen die berufliche Rolle der Lehrerin und auch gegen die der Ehefrau an der Seite Otto Modersohns in zurückgenommener Pflichterfüllung. So unterwarf sie sich nicht der Ehe, sondern nutzte umgekehrt diese, um ihren Weg als freie Künstlerin zu finden. Konsequent suchte sie die Selbstverwirklichung, wovon über sechzig Selbstporträts zeugen, welche die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich bildlich verewigen. Gewissermaßen spiegelte sie sich auf diese Weise, befragte sich und kreierte eine Spur zum innersten Selbst. Ihr Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung als Künstlerin sowie die Suche nach dem Lebenssinn ist wohl das, was sie zeitlebens antrieb. Ihre Ausdrucksform war Avantgarde, bestechend durch eine Einfachheit und bereits erkennbare Merkmale von Expressionismus und Kubismus. Zu Lebzeiten jedoch verkauft sie nur fünf Werke, ihr Talent bleibt unentdeckt und unbeachtet. Schmerzend ist, dass kurz vor dem Finden und Ankommen in der wohl sinnstiftendsten Rolle ihres Lebens, der Mutterrolle, ihr Leben abrupt endete. Sie selbst soll ihren Tod mit den berühmten letzten Worten „Ach…Schade!“ kommentiert haben. Diese scheinen wie ihr hinterlassenes Œuvre scheinbar einfach, aber doch voll tiefem Erkennen. Sie wirken wie ihr Malstil, wie ein Vorgriff auf Kommendes …
Denn ihr Ringen um Sichtbarkeit überdauert Tod und Unterschätzung, ja es wird zum Triumpf über das eigene Schicksal. Posthum schreibt sie Geschichte: Ihre Selbstporträts beinhalten das erste Akt-Selbstporträt der Kunstgeschichte und ihr zu Ehren wird das erste Museum für eine Frau eröffnet.
Selten im Fokus standen bislang jedoch ihre Zeichnungen, welche nun im Rahmen der Sonderausstellung “Die Zeichnerin Paula Modersohn-Becker“ mit mehr als 120 Zeichnungen, Skizzen, Aquarellen und Pastellen zugänglich werden. Diese wirken teils melancholisch und treffen die Linien den Betrachter derart gefühlsstark, dass alle Farbe überflüssig wird. Stille Szenen wirken so lebendig wie bunte Bilder und offenbaren einen privaten, nahezu intimen Zugang zur Künstlerin, da ihre Zeichnungen als Gedankenstützen konzipiert, zum Experimentieren und Üben gedacht, nicht jedoch für die Öffentlichkeit bestimmt waren. So eröffnet sich dem Betrachter ein Blick in das persönliche Œuvre aus Kohle und Kreide, ein tagebuchartiger Einblick ins Leben einer nun bekannten Künstlerin.
Besonders Ausstellungsstücke, welche noch nie oder seit Jahrzehnten nicht mehr öffentlich ausgestellt wurden, aus musealen und privaten Sammlungen stammend, vermitteln einen Eindruck von der Vielfalt ihres Werkes. Nach Ausstellungsende werden die Papierarbeiten aufgrund der Materialempfindlichkeit auf unbestimmte Zeit erneut in Depots verwahrt und nicht zugänglich sein. Daher ist die kommende Sonderschau eine aufwändige wie seltene Gelegenheit, das kontrastreiche Leben Modersohn-Beckers, das Schwere und das Einfache, in gezeichnetem Hart und Weich zu sehen.
Johanna Bayram lebt und arbeitet in Köln und im Saarland.
Die Zeichnerin Paula Modersohn-Becker
13.5. – 20.8.2023
Paula Modersohn-Becker Museum
Böttcherstr. 6
D-28195 Bremen
Tel.: +49-421-3388222
Di – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 12 €, erm. 8 €
www.museen-boettcherstrasse.de
Text: Johanna Bayram
Bild: Paula Modersohn-Becker Museum
Erstveröffentlichung in kunst:art 91