Aus Hagen nach Paris und zurück

bis zum 3.9.2023 I LWL Museum in Münster

Melchior Lechter, Frauenstudie, 1889

Ein Sommer der Moderne mit westfälischen Künstlern im LWL Museum in Münster

1862 wurde Ida Gerhardi, eine der bemerkenswertesten Malerinnen des deutschen Expressionismus, in Hagen geboren. Erst mit 28 Jahren konnte sie sich an der Münchener Kunstakademie einschreiben, flüchtete aber nach Paris, denn die Atmosphäre in der bayerischen Hauptstadt war ihr zu frauenfeindlich. Ihr Ziel war die renommierte Malakademie Colarossi, wo auch Paula Modersohn-Becker und Käthe Kollwitz unterrichtet wurden. Mit ihrer Zimmernachbarin Kollwitz entdeckte sie die Bistros (und in den meisten Fällen auch Spelunken) der Pariser Demi-Monde als ein neues – von Frauen bis dato nie erprobtes – Thema der Malerei.

Sie versuchte via Paris auch Fuß in Deutschland zu fassen (Berlin). So zählte sie auch den Hagener Mäzen Karl Ernst Osthaus zu ihren Freunden und war überzeugt, dass auch Frauen – wie Männer – von ihrer Kunst leben können sollten.

Ein Jahr nach ihrer Ankunft reist Gerhardi für drei Monate nach Concarneau in der Bretagne, damals das Refugium und auch die Heimat vieler Impressionisten. In der französischen Hauptstadt suchte sie die Nähe zu Auguste Rodin, einem der prominentesten Vertreter der Pariser Kunstszene. Sie musste jedoch erkennen, dass die Hochschätzung in Künstlerkreisen in Paris, wo Gerhardi auch am berühmten Salon des Indépendents teilnahm, keinesfalls ein Garant für Verkaufserfolge in Berlin war. Zudem spielte ihre Gesundheit nicht mit, und so kehrte sie nach 22 Jahren enormer Anstrengungen in Paris nach Deutschland zurück.

Unter den sechs Künstlern, die beim diesjährigen Münsteraner Sommer der Moderne mit etwa 130 Bildern vertreten sind, zählt Ida Gerhardi sicherlich zu den tapfersten: Das Thema, das sie in ihrer Pariser Zeit bearbeitet, hat nichts mit der schönen Welt eines Manet zu tun, und auch wenn Berlin eine ähnliche Schicht der Kneipen und Spelunken mit ihrer seltsam grünen Atmosphäre kennt, war Gerhardi die damalige Kunstkritik nicht immer gewogen. Doch sind ihre Tanzszenen voller innovativer dynamischer Elemente. Was Porträts betrifft, so schätzte man eher die Bilder des westfälischen Peter August Böckstiegel (oder auch von Conrad Felixmüller – 1898), das Fernweh von Eugen Bracht, die Landschaftsdarstellungen von Bernhard Pankok und die Jugendstilvariationen von Melchior Lechter.

Die Ausstellung wirkt auf den ersten Blick wie eine disparate Zusammensetzung verschiedener Malstile am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts, ist jedoch ein informatives Panoptikum der ambitionierten Neuentwicklung innerhalb einer bis dato eher künstlerisch unbeschriebenen Region, deren Protagonisten in Berlin, Frankfurt oder München eher als zu Hause rezipiert wurden. Eine Ausnahme bildet Josef Albers, dessen Auseinandersetzung mit Quadrat, Form und Farbe ein bahnbrechendes Erlebnis nach dem Zweiten Weltkrieg sein wird.

Ein Sammlungskatalog der Gemälde der Moderne des LWL Museums soll demnächst erscheinen und bietet einen ergänzenden Blick auf die Situation und Arbeiten dieser Künstler.

Dr. Milan Chlumsky promovierte an der Pariser Sorbonne über Ästhetik und den tschechischen Poetismus.

Sommer der Moderne
bis zum 3.9.2023
LWL-Museum für Kunst und Kultur
Domplatz 10
D-48143 Münster
T +49 251 5907 201
Di – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 13 €, erm. 6,50 €
www.lwl-museum-kunst-kultur.de

Text: Dr. Milan Chlumsky
Bild: LWL-Museum für Kunst und Kultur
Erstveröffentlichung in kunst:art 92