Wie kommen wir nur dem Geheimnis der Künstler (oder gar dem der Kunst) auf die Spur? Schwer zu sagen, eine heiße Spur scheint jedenfalls in die Hamburger Kunsthalle zu führen. Dort, im unmittelbaren Dunstkreis altbewährt hanseatischer Kaufmannstugend (und, nicht zu vergessen, seriösester Kunstwissenschaft), tut sich gerade Unglaubliches: Das, wonach wir nie zu fragen wagten, wird schonungslos aufgedeckt. Die Ermittlungskommission ist ein Einmann-Kommando und dieser Mann heißt Walid Raad. Der 1967 im Libanon geborene und heute vor allem in New York lebende Künstler ist ein medialer Tausendsassa, der nicht nur den Hasselblad-Preis für seine Fotografie erhielt, sondern sich jederzeit mit Filmarbeiten, Texten und Performances kopfüber mitten in die zeitgenössischen Debatten stürzt. Und in denen geht es bekanntlich gerne um die Neubewertung aller möglichen geschichtlichen Sachverhalte und, damit innig zusammenhängend, um die Frage nach der kulturellen Lufthoheit in der Gesellschaft überhaupt. Beispiel: die libanesische Geschichte der jüngeren Vergangenheit, Raad aus offenkundigen biografischen Gründen besonders am Herzen liegend. Vor gut zwanzig Jahren gründete er also zu deren Erforschung eine Stiftung, die sich mit Vorlesungen, Publikationen, Ausstellungen etc. betätigt. Nur – alles ist Fiktion, die Stiftung so imaginär wie deren Archive und die Interviews vorgeblicher Zeitzeugen …
Vor Kurzem nun hat sich Walid Raads Forschungsdrang der Hamburger Kunsthalle angenommen und in Sammlung und Depots des altrenommierten Hauses wirklich die erstaunlichsten Entdeckungen gemacht. „The Hamburg Chapter“ – eine Kooperation mit dem Sommerfestival auf Kampnagel – ist vor allem ein performativer Parcours durch den Gründungsbau der Kunsthalle und bringt, beginnend bei den Alten Meistern, Werke aus der Sammlung zusammen mit zeitgenössischen Ereignissen, ausgewählten Objekten wie auch eigenen Werken Raads. Da haben wir beispielsweise die Schenkung des Barons Thyssen-Bornemisza, die nun bekanntlich zwar in der Hauptsache nach Madrid ging, von der aber auch etwas für Hamburg abfallen sollte. Schön eigentlich, nur warum durften die Hamburger Kuratoren laut Stiftungsvertrag nie die Vorderseite der geschenkten Bilder sehen? Warum zeigen sich auf der Rückseite immer wieder so merkwürdige Wolken? Steht tatsächlich die Anzahl der auf den Gemälden in der Sammlung zu findenden Engel in einem geheimen Verhältnis zu deren Vorkommen im biblischen Text? Und was machen die ekligen Würmer auf dem edlen Pokal? Ein typisch barockes Memento mori – oder Ausdruck des bizarren Humors von Walid Raad?
Dass man sich in all diesen Fällen nie so ganz sicher sein kann, macht natürlich den Spaß an der Sache aus, besonders bei der Führung durch den Künstler selbst – buchbar über Kampnagel –, der über einiges komödiantisches Talent verfügt. Dahinter aber natürlich auch ganz im Ernst die Frage: Sind Fake News eigentlich zum Lachen oder zum Fürchten? Je nachdem …
Dieter Begemann lebt und arbeitet in Norddeutschland.
Walid Raad. Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter
10.8. – 12.11.2023
Hamburger Kunsthalle
Glockengießerwall 5
D-20095 Hamburg
Tel.: +49-40-428131200
Di – So 10 – 18 Uhr, Do 10 – 21 Uhr
Eintritt: 16 €, erm. 8 €
www.hamburger-kunsthalle.de
Text: Dieter Begemann
Bild: Hamburger Kunsthalle
Erstveröffentlichung in kunst:art 93