Zwischen Klassifizierung und diskriminierender Bewertung

2.12.2023 – 14.4.2024 | Kunstmuseum Stuttgart

Rudolf Schlichter, Hausvogteiplatz, um 1926

Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit im Kunstmuseum Stuttgart

Um unsere Welt für uns fassbar zu machen, schematisieren und klassifizieren wir sie. Wir konstruieren folglich Bilder in unseren Köpfen, die der Publizist Walter Lippmann bereits 1922 in der Schrift „Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird“ als Stereotype bezeichnet. Sie begleiten uns durch den Alltag, ob es sich nun um Geschlechterstereotype, nationale oder religiöse Zuweisungen handelt. Auch die bildende Kunst greift mit den Merkmalen des Typischen auf ein Zeichensystem zurück, das die Betrachter entschlüsseln müssen.

Die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart setzt mit dem Titel „Sieh dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“ genau hier an: Sie beschäftigt sich intensiv mit gesellschaftlichen Stereotypen jener Zeit, ihrer vermeintlich wissenschaftlichen Legitimation, ihrer künstlerischen sowie massenmedialen Verbreitung und nicht zuletzt ihrer fortwährenden Präsenz. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf den gleichnamigen Ratgeber des Mediziners Gerhard Venzmer von 1930, der Menschen anhand äußerer Merkmale typisiert, und steht stellvertretend für den Zeitgeist der Epoche, in der der Diskurs über das Typische in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zusammenhängen präsent war.

Die Ausstellung ist für das Kunstmuseum eine hervorragende Gelegenheit, die eigenen Werke der Neuen Sachlichkeit, insbesondere die Porträtgemälde von Otto Dix, die nun zusammen mit internationalen Leihgaben aus über vierzig Museen und Privatsammlungen präsentiert werden, im Hinblick auf relevante gesellschaftliche Fragen neu zu bewerten. Besondere Aufmerksamkeit gilt in der Ausstellung den oft vergessenen Werken von Frauen, wie Jeanne Mammen, Grethe Jürgens oder Kate Diehn-Bitt, die die Neue Sachlichkeit maßgeblich beeinflusst haben.

Industriearbeiter, Arbeitslose, Intellektuelle, Prostituierte, Kriegsversehrte, Kriminelle, Haifisch-Kapitalisten: Die neusachlichen Künstler wie George Grosz, Rudolf Schlichter und Christian Schad stellten in ihren Porträts vielfach Menschen dar, die einen gewissen Typus oder eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe repräsentierten. So lässt sich anschaulich nachvollziehen, wie die in den 1920er-Jahren etablierten Klischeevorstellungen bis heute vorherrschen. Obwohl individuelle Gesichtszüge festgehalten wurden, lag der Fokus der Künstler darauf, das Typische einer Person hervorzuheben und sie als Repräsentant ihrer gesellschaftlichen Gruppe innerhalb ihres sozialen Umfelds darzustellen. So entstanden stereotype Figuren wie „der Arbeiter“, „der Intellektuelle“ oder „die neue Frau“.

Der Zwiespalt der Ausstellung liegt darin, dass die Betonung von Typen zwangsläufig zur Reproduktion von Klischees führt. Um eine kritische Betrachtung aus heutiger Perspektive zu ermöglichen, werden die Werke im Ausstellungsraum durch zeithistorische Dokumente und Materialien kontextualisiert. Eine Installation von Cemile Sahin mit dem Titel „Alpha Dog“ schlägt zudem einen Bogen in die Gegenwart, indem sie auf Typisierungs- und Klassifizierungstendenzen in computerbasierten Gesichtserkennungs-Tools hinweist und die Gefahren eines programmierten Rassismus thematisiert.

Stefan Simon weiß als Kunsthistoriker, dass es auch immer auf die Perspektive ankommt.

Sieh dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit
2.12.2023 – 14.4.2024
Kunstmuseum Stuttgart
Kleiner Schlossplatz 1
D-70173 Stuttgart
Tel.: +49-711-21619600
Di – So 10 – 17 Uhr, Fr 10 – 20 Uhr
Eintritt: 11 €, erm. 8 €
www.kunstmuseum-stuttgart.de

Text: Stefan Simon
Bild: Kunstmuseum Stuttgart
Erstveröffentlichung in kunst:art 95