Montierte Welten von Hannah Höch im Belvedere

21.6. – 6.10.2024 | Unteres Belvedere

Hannah Höch, Liebe, 1926

Meisterin für das Multiperspektivische

„Ich will dartun, dass klein auch groß und groß auch klein ist, nur der standpunkt, aus dem wir urteilen,
wird gewechselt“, formulierte Hannah Höch 1929 anlässlich ihrer ersten Einzelausstellung. Diesen
Perspektivenwechsel erreichte die Künstlerin mit dem Kunstgriff der Fotomontage, als deren Pionierin sie
gilt. Höch, 1889 geboren in Gotha, gestorben 1978 in ihrem Gartenhaus am Berliner Stadtrand, war
gegen Ende des Ersten Weltkriegs in Berlin die einzige Frau im Männerclub der Dadaisten. Und sie war
eine unangepasste feministische Avantgardistin der Fotomontage und Collage.

Als Meisterin der Collage greift sie in den gärenden Topf des Zeitgeists, schnipselt, kombiniert und
schafft aus den Bedeutungsfetzen einen prophetischen Hexenkessel. Doch ihr Gesamtwerk zeigt ebenso
das autonome künstlerische Statement einer vielseitig begabten Persönlichkeit. In „Montierte Welten“,
der ersten musealen Retrospektive über Höch in Österreich, gelingt im Belvedere der weitgespannte
Bogen: die Schau zeigt die Relevanz ihres (Dada-)Frühwerks und ebenso, dass ihre Arbeit weit darüber
hinausging – fast die Hälfte der Bilder, die hier zu sehen sind, stammen aus der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg. Bunt sind sie, wie die surreale Arbeit „Um einen roten Mund“ (1967), voller Tiere, Pflanzen,
Fabelwelten. Hannah Höch brach in den 1920er-Jahren mit Darstellungs- und Sehgewohnheiten: Ihre
Werke zerlegten eine Welt, die von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und der Konsumkultur
gezeichnet war, und setzten sie auf revolutionäre, poetische und oft auch ironische Weise neu
zusammen. Höch blieb ihren künstlerischen Mitteln und ihrer poetisch-radikalen, zwischen
Gesellschaftsbeobachtung und Traumwelt schillernden Imagination aber auch nach Ende des Zweiten
Weltkriegs treu. Schere und Klebstoff waren die Waffen ihrer Kunst der Montage.

Schnitt und Montage wiederum prägten auch den Film als damals junges Medium, das Höchs Schaffen
immens beeinflusste: Sie verstand Montagen als statische Filme. Die rasante Bewegung ist
charakteristisch für Höchs Collagen. Ein Kopf, dem Schwertlilien entsprießen, balanciert auf hüpfenden
Tanzschuhen („Englische Tänzerin“). Über gegrätschten Beinen rotiert fächerförmig arrangierte Spitze
(„Ungarische Rhapsodie“). Ballerinas entschweben in Wolken („Nur nicht mit beiden Beinen auf der Erde
stehen“). Die spannungsreichen Kontraste zwischen Natur und Technik, organischer und mechanischer
Form, Pflanze und Maschine, Außen- und Innenwelt bestimmen in den unterschiedlichsten Versionen die
Bildsymbolik. „dass es außer deiner und meiner anschauung und meinung noch millionen und
abermillionen berechtigter anderer anschauungen gibt“ – wie Hannah Höch es in einem Gedicht
formuliert –, ist die künstlerische Motivation der Expertin für das Multiperspektivische.

Im collagierten Gemälde „Kubus (oder: vom Menschen aus)“ aus dem Jahr 1926 gibt das kubistisch aufgefächerte
Gesicht die unzählige Vielfalt der Blickrichtungen vor. 1945 jedoch lässt Höch nur eine Blickrichtung zu:
die weise „Eule mit Lupe“ betrachtet die Apokalypse auf der Erde aus sicherer Distanz.

Stefan Simon lebt und arbeitet in Süddeutschland.

Hannah Höch. Montierte Welten
21.6. – 6.10.2024
Unteres Belvedere
Rennweg 6
A-1030 Wien
Tel.: +43-1-795570
Täglich 10 – 18 Uhr
Eintritt: 17 €, erm. 12,50 €
www.belvedere.at

Text: Stefan Simon
Bild: Unteres Belvedere
Erstveröffentlichung in kunst:art 98