Als Handzeichnung dem Papier eingeschrieben und körperlos kann man die Zeichnung per Definition von anderen künstlerischen Gattungen abgrenzen. Doch längst hat sich das Medium, mit dem Leonardo da Vinci Wasser und Wolkenformationen wiedergab, aus seinem Nischendasein gewagt, die eng gesteckten Grenzen zu anderen künstlerischen Gattungen überwunden. Wie sich zeitgenössische Zeichnerinnen aktuell äußern, kann man nun im Kunsthaus Erfurt eindrucksvoll erleben. Es geht um die ureigenste Motivation von Kunst, um die Darstellung von Zeitlichkeit. Zeichnerisch wird zudem der Raum erobert und sich abstrakt der Landschaft angenähert.
Schließlich gibt es in der Ausstellung noch etwas zu hören. Zeichnen ist für die Berliner Künstlerin Katja Pudor sowohl eine konzeptionelle Recherche als auch eine körperliche Angelegenheit. Auf den Ohren Kopfhörer, in den Händen Pinsel an langen Stäben, so bewegt sich Katja Pudor über weiße Papierbahnen. Zur Musik von Beethoven schafft sie große Schwarzweiß-Zeichnungen voll gestischer Kürzel und schwungvoller Linien. Ludwig van Beethovens „Piano Sonata no. 32“ geht 30 Minuten, solange braucht sie für ihre Zeichnung – ein dynamischer, augenscheinlich spontaner Prozess. Bei ihren Spurensetzungen geht es um Verdichtung der erlebten Zeit, das Festhalten der momentanen Gegenwart, die vergeht und zur Vergangenheit geworden ist. Bei Katja Pudor geht es auch immer um Annäherungen an Intensitäten. So geben ihre Schrift-Zeichnungen viel mehr Auskunft über das Ausmaß der Wahrnehmung, die sich aus dem Raum des Hörens, Verstehens und Empfindens in die Schreibbewegung übersetzt, als über den ursprünglichen Text oder das gehörte Musikstück. Das Publikum kann der Entstehung dieser seismografischen Bilder beiwohnen. Das Bergstrom-Kollektiv bringt die Galerieräume mit Werken zeitgenössischer Komponistinnen im Kunsthaus Erfurt zum Klingen. Katja Pudor übersetzt in ihrem fünfteiligen Performancezyklus „Über das Hören und Zuhören und die sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten II“ die Stücke in unterschiedlichen Konstellationen.
Was eine Linie alles sein und bewirken kann, davon berichten die Arbeiten von Daniela Wesenberg. Es geht um Bewegungsabläufe, den dynamischen Prozess von der statischen Zweidimensionalität zum Raum, in denen sich die Linien frei entfalten können, und auch immer um das vermeintlich leere, form- und inhaltslose „Dazwischen“. Ein Aspekt, der für die Papierarbeiten und Skulpturen, deren formale Inspiration Daniela Wesenberg in alltäglichen und beiläufigen Beobachtungen findet, von zentraler Bedeutung ist. „Das, was nicht da ist, das Dazwischen ist genauso wichtig wie das, was da ist“, betont die Künstlerin. So setzen sich die getuschten Linien der Papierarbeiten in den filigranen plastischen Interventionen ihrer Raumzeichen mitsamt ihrer Zwischenräume fort. Die Systeme, mit denen aus miteinander verbundenen Holz- oder Edelstahlstäben der Raum ausgelotet wird, beziehen ihre Spannung aus dem Spiel zwischen Fragilität und Präsenz, Offenheit und Geschlossenheit und vor allem mittels ihrer Leerräume, die der Betrachter je nach Perspektive mit Leben füllen kann.
Stefan Simon hat Kunstgeschichte und klassische Archäologie studiert und arbeitet als freier Autor und Kurator.
Katja Pudor, Daniela Wesenberg. Gerade, die Linie!
5.5. – 16.6.2023
Kunsthaus Erfurt
Michaelisstr. 34
D-99084 Erfurt
Tel.: +49-361-5402437
Di – Fr 12 – 18 Uhr
Eintritt frei
www.kunsthaus-erfurt.de
Text: Stefan Simon
Bild: Kunsthaus Erfurt
Erstveröffentlichung in kunst:art 91