Zwei Positionen der Moderne in Chemnitz

22.10.2023 – 14.1.2024 I Kunstsammlungen Chemnitz

Naiv gegen Avantgarde – Polarisierung aus heutiger Sicht

Der Zeitraum der klassischen Moderne in der Kunst erstreckt sich auf die Zeit von 1900 bis 1950 und ist vom Ersten und Zweiten Weltkrieg geprägt. Beide Ereignisse beeinflussten die Kunst dieser Stilrichtung tiefgründig: Sie zeugt von den Grausamkeiten beider Kriege.

Die Kunstsammlungen am Theaterplatz in Chemnitz beleuchten die klassische Moderne und deren Künstler zwischen den beiden Weltkriegen. Der Schwerpunkt liegt hier aber nicht allein auf den bekannten Namen, sondern sie rückt jene Werke ins Rampenlicht, die von bekannten Autodidakten jener Zeit stammen, die heute ein wenig oder ganz in Vergessenheit geraten sind.  

Ausgangspunkt für die Konzeption der Schau ist die Ausstellung „Les Maîtres populaires de la réalité“, die 1937 in Paris stattfand. Hier wurden erstmals Werke der naiven Malerei im Schatten der Weltausstellung im Saal der Revue de la Renaissance präsentiert, die ganz klar als Gegenpart zu den stalinistischen und nationalsozialistischen Positionen in Kunst und Architektur verstanden werden und zeigen sollte, wie frei, ohne politische Einflussnahme, sich Kunst in Frankreich entfaltete und vor allem respektiert wurde. Mit Adolf Dietrich nahm an der Pariser Ausstellung ein deutscher Künstler teil, dem mit der Schau der Durchbruch auf dem internationalen Kunstmarkt gelang. Die Ausstellung ging in abgewandelter Form anschließend nach Zürich, London und New York. Doch ohne einen Kunsthändler aus Deutschland wie Wilhelm Uhde wäre eine naive Malerin wie Séraphine Louis wohl unentdeckt geblieben, genauso wie Henri Rousseau oder Louis Vivin.

Von Dauer war der Erfolg der naiven Künstler nicht, es blieben die Namen der etablierten Künstler der Avantgarde, deren Werke die Stürme der Zeit bis heute überdauern, in den Büchern der Kunstgeschichte fest verankert sind und nicht in Depots von Museen oder Sammlungen verschwanden.

Max Beckmann, Heinrich Campendonk, Max Ernst oder August Macke wurde ein Ruhm zuteil, den die Ausstellung in Chemnitz jetzt infrage stellt unter dem Aspekt, inwieweit die naiven Autodidakten die Avantgardisten in ihrem Schaffen nachhaltig beeinflussten.

Rund hundert Werke wurden für die Präsentation, die in enger Zusammenarbeit mit dem Sprengel Museum Hannover entstand, ausgewählt. In der Gegenüberstellung, so das Anliegen, sollen Beziehungen, Austausch und gegenseitige Einflussnahme zwischen den beiden Stilrichtungen und deren Vertretern für die Besucher sichtbar werden.

Inwieweit die Naiven am Ruhm der anderen tatsächlich in der Schau kratzen können, das bringt Diskussionsbedarf mit sich, sicherlich nicht nur bei den Besuchern. Allerdings ist die Idee grandios, die Werke der naiven Künstler jener Zeit wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie dem Vergessen zu entreißen. Es ermöglicht den Besuchern, die ganze künstlerische Bandbreite dieser Epoche zu erleben und zu genießen. So wird sich der historische Blick auf die klassische Moderne noch einmal schärfen, präzisieren und vertiefen unter dem neuen Aspekt der naiven Malerei.  

Die Autorin ist bis heute von dem Film „Séraphine“ aus dem Jahr 2008 begeistert. Einer sehr gelungenen Biografie über diese naive Künstlerin von Martin Provost. 

Welche Moderne?
22.10.2023 – 14.1.2024 
Kunstsammlungen Chemnitz
Theaterplatz 1
D-09111 Chemnitz
Tel.: +49-371-4884424
Di + Do – So 11 – 18 Uhr, Mi 14 – 21 Uhr
Eintritt: 8 €, erm. 5 €
www.kunstsammlungen-chemnitz.de

Text: Nadja Naumann
Bild: Kunstsammlungen Chemnitz
Erstveröffentlichung in kunst:art 93